Schüsse in den Rücken Mord an Botschafter setzt Türkei unter Druck
Ankara (dpa) - Schlechter hätte die Reise des türkischen Außenministers nach Russland kaum beginnen können. Mevlüt Cavusoglu ist gerade auf dem Flug nach Moskau, als am Montag um 19.05 Uhr in der türkischen Hauptstadt Ankara der russische Botschafter Andrej Karlow erschossen wird.
Nicht nur versagen bei dem Attentat alle Schutzmechanismen. Einer der wichtigsten Diplomaten in der Türkei wird noch dazu von einem türkischen Staatsdiener ermordet - und zwar ausgerechnet von einem Polizisten.
Dass Terrorgruppen wie der Islamische Staat (IS) und die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK Bomben in der Türkei zünden, ist fast schon traurige Routine geworden. Erst am vergangenen Samstag riss ein Selbstmordattentäter 14 Soldaten im verschlafenen zentralanatolischen Kayseri mit in den Tod. Anschläge und der Putschversuch vom 15. Juli - den die Regierung ebenfalls als Terrorakt wertet - kosteten in diesem Jahr Hunderte Türken das Leben.
Ein tödliches Attentat auf einen Botschafter ist allerdings selbst in der gewaltgeplagten Türkei ein Novum. Die Bluttat beweist zugleich, dass es sogar im Herzen der Hauptstadt bei einer an sich harmlosen Veranstaltung - einer russisch-türkischen Fotoausstellung - keine Sicherheit mehr gibt. Das Kulturzentrum für Zeitgenössische Kunst, in der Karlow die Ausstellung eröffnete, liegt gegenüber der Botschaft der USA und keine 300 Meter von der Deutschlands entfernt.
Der Zeitpunkt des Attentats - kurz nach dem Fall Aleppos und einen Tag vor der Syrien-Konferenz Russlands, der Türkei und des Irans in Moskau - dürfte kaum ein Zufall gewesen sein. „Allahu Akbar“ rief der 22-jährige Attentäter Mevlüt Mert Altintas, der sich mit seinem Dienstausweis Zutritt verschaffte - und auf Türkisch: „Vergesst nicht Aleppo“ sowie „Vergesst nicht Syrien“. Während der Rede Karlows stand Altintas im dunklen Anzug wie ein Leibwächter hinter dem Botschafter - dem er schließlich in den Rücken schoss.
Die Türkei und Russland, die im Syrien-Konflikt lange Zeit völlig über Kreuz lagen, haben sich bei dem Thema in der jüngsten Vergangenheit angenähert - was den von Ankara unterstützten Rebellen nicht gefallen kann. Der regimetreue syrische Abgeordnete Fares Schehabi nannte den ermordeten Botschafter am Dienstag auf Twitter „einen Märtyrer für Aleppo, einen Helden für Syrien“.
Ankara und Moskau werteten das Attentat übereinstimmend als Angriff auf das bilaterale Verhältnis. Fast zeitgleich versicherten noch am Montagabend der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und Kremlchef Wladimir Putin, die „Provokation“ werde die Annäherung der beiden Länder nicht wieder rückgängig machen. Erst kurz vor dem Putschversuch in der Türkei von Mitte Juli hatte Erdogan sich für den Abschuss eines russischen Kampfjets entschuldigt - und so nach monatelanger Krise den Weg für die Aussöhnung mit Putin bereitet.
Für den Putschversuch machte Erdogan die Bewegung des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen verantwortlich. Wenige Tage danach brachte Erdogan eine mögliche Verbindung zwischen den türkischen Piloten, die den russischen Kampfjet vor gut einem Jahr abschossen, und Gülen ins Spiel. Und nach dem Mord an Botschafter Karlow dauert es genau 90 Minuten, bis Ankaras Bürgermeister Melih Gökcek über Twitter den Verdacht streute, der erschossene Polizist und Attentäter sei womöglich ein Gülen-Anhänger gewesen.
Sollte sich der Verdacht bewahrheiten, den am Dienstag auch regierungsnahe Medien verbreiteten, wäre das Beleg für Erdogans These, die Gülen-Bewegung sei eine internationale terroristische Bedrohung. Offen bliebe die Frage, wie der Polizist den von Erdogan nach der Niederschlagung des Putsches ausgerufenen „Säuberungen“ entgangen ist, bei denen die Behörden nicht übermäßig wählerisch vorgehen: Nach Erdogans Angaben wurden seit dem Putschversuch mehr als 40 000 Gülen-Verdächtige in Untersuchungshaft gesperrt.
Russland entsandte am Dienstag ein 18-köpfiges Ermittlerteam, um die Hintergründe des Mordes gemeinsam mit den türkischen Behörden aufzuklären - und um nach Hintermännern zu fahnden. Für den russischen Abgeordneten Franz Klinzewitsch ist der Anschlag die „Rache radikaler Islamisten für die russischen Kriegserfolge“ in Syrien. Putin drohte den Drahtziehern mit Vergeltung. Als Antwort auf den Mord werde Russland seinen Kampf gegen den Terror verstärken, kündigt er an. „Die Banditen werden es zu spüren bekommen.“
Folgen könnte auch die gebeutelte türkische Tourismusindustrie zu spüren bekommen. Nach dem Abschuss des Kampfjets waren die russischen Besucherzahlen um mehr als 90 Prozent eingebrochen. Die Annäherung Ankaras und Moskaus nährte die Hoffnung, die Lage könne sich in der nächsten Saison zumindest halbwegs normalisieren. Doch nach dem Attentat appelliert der russische Vizeaußenminister Oleg Syromolotow an seine Landsleute, Reisen in das beliebte Urlaubsland genau abzuwägen. Er sagte: „Jeder sollte vor einer Türkei-Fahrt ernsthaft nachdenken, weil es dort fast täglich zu Terrorakten kommt.“