Mutter von Neonazi-Opfer: „Familie ist zerrissen“
Kassel (dpa) - In einer Wohnung in der Kasseler Nordstadt sitzt ein gebrochenes Ehepaar. Es hat seinen einzigen Sohn verloren - mutmaßlich hingerichtet von Neonazis. Fünf Jahre nach der Tat erscheint nun auch die Rolle des hessischen Verfassungsschutzes in dem Mordfall dubios.
„Unsere Familie ist zerrissen“, sagt Ayse Y., die Mutter des Opfers, der Nachrichtenagentur dpa.
Ein Verfassungsschutzmitarbeiter war bei dem Mord in Kassel im April 2006 am Tatort in einem Internetcafé. Er geriet unter Verdacht, weil er sich nach dem Verbrechen nicht als Zeuge gemeldet hatte - nach eigener Aussage, weil er auf Sexseiten gesurft hatte. Die Ermittler konnten den V-Mann über eine Analyse des von ihm genutzten Computers und einer DNA-Probe identifizieren. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren gegen ihn aber im Januar 2007 ein. Sie ging damals davon aus, dass der Beamte kurz vor der Ermordung des 21 Jahre alten Halit Y. das Café wieder verlassen hatte. Diese Version scheint inzwischen nicht mehr haltbar.
Der Verfassungsschützer sei über Monate in dem Internetcafé ein- und ausgegangen, berichten die Eltern von Halit. Er sei gut angezogen gewesen, höflich, freundlich, und habe zweimal pro Woche zwei Stunden lang im Netz gesurft. Am Tattag jedoch habe er das Café bereits nach 15 Minuten fluchtartig verlassen und sei nie wiedergekommen, erzählt Ismail Y., der Vater des Opfers. „Wir alle kannten ihn gut.“ Umso schlimmer wiegt der Verdacht, der Mann könnte irgendwie mit dem Verbrechen zu tun haben.
„Ich weiß, mein Sohn kommt nicht zurück. Wir hoffen aber, dass es heute - Jahre später - geklärt wird“, sagt Ayse Y. Denn nach dem Mord wurde im Zuge der Ermittlungen auch über Drogengeschäfte spekuliert. „Mein Sohn war sauber.“ Nun führt die Spur zur Neonazi-Szene, und die Rolle des Verfassungsschutzes ist unklar. „Nach der Tat war ich schockiert. Jetzt erlebe ich einen noch größeren Schock. Gerade der Staat - wer soll uns dann noch schützen?“
„Unter den Ausländern herrscht Angst und Misstrauen. Wir fühlen uns unsicher. Das muss aufgeklärt werden“, fordert der Vorsitzende des Ausländerbeirats der Stadt Kassel, Kamil Saygin. „Wie lange können wir das in einem demokratischen Land noch dulden?“, fragte er und kündigte eine Kundgebung in Kassel an. Oberbürgermeister Bertram Hilgen (SPD) rief zu Toleranz und Mitmenschlichkeit auf.
Wie das Regierungspräsidium (RP) Kassel berichtete, ist der frühere Verfassungsschützer mittlerweile beim RP in einem „internen Bereich ohne Außenwirkung“ beschäftigt. Dazu zählen etwa Großdezernate mit mehreren hundert Mitarbeitern, wie die Versorgungsstelle für die Altersbezüge für Beamte. Keine Angaben machte das RP dazu, ob der Mann derzeit noch in der Behörde tätig ist. Es gelte die Unschuldsvermutung. „Konsequenzen ergeben sich erst, wenn es aufgrund der Faktenlage eine juristische Bewertung gibt“, sagte ein Sprecher der dpa.
Das Internetcafé von Halit Y. in Kassel gibt es nicht mehr. „An- und Verkauf von Waren aller Art“, steht nun an dem Geschäft. Doch Fenster und Türen sind vergittert, der Briefkasten quillt über. Vor der Tür steht ein Grablicht - es ist erloschen.