Fataler Dominoeffekt Neue Beben zeigen Italiens Verwundbarkeit
Rom/Visso (dpa) - Schon nach dem verheerenden Beben im August mit fast 300 Toten gab es diese Befürchtung: Es könnten weitere starke Erdstöße folgen, bläuten Experten den Menschen ein. Ein Dominoeffekt.
Sie behielten Recht.
Auch wenn bei dem Doppel-Beben vom Mittwoch nach ersten Erkenntnissen keine Menschen in den Trümmern starben: Wie kann man in einer Region leben, die seit Monaten von mal stärkeren, mal schwächeren Erdbeben erschüttert wird, wo ein Großteil der Häuser kaputt und an Wiederaufbau noch nicht zu denken ist?
„80 Prozent der Häuser hier waren schon seit dem 24. August nicht mehr bewohnbar“, erzählt die Barbesitzerin in dem Dorf Castelsantangelo sul Nera, Pamela Cappa, der Zeitung „Corriere della Sera“. Viele Bewohner seien deshalb in das nahe gelegen Visso gezogen, weil das vom Beben im August weitgehend verschont geblieben war. „Aber dieses Mal ist uns das Erdbeben nicht erspart geblieben.“ Einer, der in der Bar Schutz sucht, sagt: „Ich und meine Familie sind dem ersten Beben entkommen. Wir erleben hier seit Monaten einen Alptraum.“
Castelsantangelo sul Nera, Visso, Camerino, Ussita, Acquasanta - so heißen dieses Mal die kleinen Ortschaften, aus denen die Menschen fliehen müssen. Pittoresk und historisch mit schönen Kirchen, in intakter Natur mit Bergen im Nationalpark Monti Sibillini: So kennen auch Touristen die Dörfer. Sie reihen sich nun in die Namen der Gemeinden, die im Sommer verwüstet wurden: Amatrice, Accumoli, Arquata del Tronto. Die Liste wird immer länger hier in den Bergen des Apennin - Italiens erdbebenanfälligem Rückgrat.
Das jetzige Beben sei wahrscheinlich ein Nachbeben des Erdstoßes im Sommer, man müsse auch jetzt wieder mit teils stärkeren Nachbeben rechnen, sagt Torsten Dahm vom Geoforschungszentrum in Potsdam. „Das kann sich über viele Monate hinziehen.“
Aber wie kann hier etwas Neues entstehen, wenn sich die Erde immer wieder aufbäumt? „Wenn das nicht aufhört, können wir hier nichts aufbauen“, sagt der Bürgermeister von Acquasanta Terme, Sante Stangoni. In Zelten können die Obdachlosen kaum bleiben, wird es in der Bergregion bitterkalt. Die Erwägung, die Menschen an die Küste zu bringen, wird bei vielen nicht auf Gegenliebe stoßen. Zu verwurzelt sind sie mit ihren Heimatorten.
Italien ist oft Schauplatz katastrophaler Erdbeben mit vielen Toten. Das wissen auch die Bewohner. Das weiß auch die Regierung. Doch viel zu oft wird der Erdbebenschutz vernachlässigt - wie die letzten Beben zeigten. Beim Wiederaufbau machten regelmäßig Korruption und Misswirtschaft Schlagzeilen.
Die neuen Erdstöße sind eine eindringliche Mahnung an die Regierung von Ministerpräsident Matteo Renzi, es dieses Mal anders zu machen. Die Gebäude in den gefährdeten Orten müssen erdbebensicher gemacht werden, ist Renzis Credo. Das Projekt „Casa Italia“, das er nach dem Erdbeben von Amatrice ins Leben gerufen hat, beinhaltet genau das. Doch bisher ist noch nicht allzu viel Konkretes geschehen. Viele Menschen klagen, dass sie noch keinen Cent von der Regierung gesehen hätten.
Für Renzi hat das neue Erdbeben auch eine politische Bedeutung. Einerseits versucht er gerade, bei der EU-Kommission das hohe Defizit des hochverschuldeten Land zu rechtfertigen. Schon vor der Katastrophe in dieser Woche argumentierte er, Italien mache auch deshalb mehr Schulden als vorgesehen, weil das Land die Erdbebenschäden von August tragen müsse. Geschätzt wurden die auf etwa vier Milliarden Euro. Das neue Erdbeben kommt ihm zumindest in dieser Argumentation entgegen.
Andererseits steht Renzi, der als unermüdlicher Reformierer gestartet war und dem inzwischen jede Menge Gegenwind entgegenbläst, vor einem wichtigen Verfassungsreferendum am 4. Dezember, von dem er seine politische Zukunft abhängig gemacht hat. Ein gutes Krisenmanagement hat Regierungschefs noch nie geschadet.
Selbst im Luftlinie etwa 120 Kilometer entfernten Rom - wo am Mittwoch auch die Wände vieler Häuser wackelten und sogar das Außenministerium evakuiert wurde - stellen sich viele die bange Frage, ob es eigentlich auch die Hauptstadt mal richtig treffen könnte. In Italien gebe es viele „geologische Schwächezonen“, so dass es auch in entfernteren Regionen zu ähnlich heftigen Erdstößen kommen könnte, sagt Geoforscher Dahm. „Das hat es in früheren Zeiten auch schon gegeben, etwa in Neapel. Für Rom liegen solche Aufzeichnungen jedoch nicht vor.“