Noch einmal davongekommen? - Zitterpartie in Brexit-Nacht

London (dpa) - Minuten nach Schließung der Wahllokale - die ersten Zahlen der Brexit-Nacht flimmern über den TV-Sender Sky News. 52:48 für Drinbleiben. Doch Vorsicht ist angesagt. Verlässlich sind die Angaben nicht.

Viel zu knapp das Ganze.

Und: Hat sich das Institut YouGov bei den Parlamentswahlen vor einem Jahr mit ihren Fehlprognosen nicht bis auf die Knochen blamiert?

Also: Ob in Berlin oder Brüssel, in Paris oder Rom heißt es weiter zittern - die Regierungen in den europäischen Metropolen haben einen Heidenbammel vor einem EU-Austritt des Vereinten Königreichs.

Doch kaum zwei Minuten nach Veröffentlichung der Befragung eine echte Überraschung: Ausgerechnet Nigel Farage, der Hardliner der britischen Brexit-Fans, äußert sich: „Es scheint, als würden die EU-Befürworter knapp gewinnen“, sagte der Chef der rechtspopulistischen Ukip-Partei. Wirft der Mann schon so früh das Handtuch? Auch hier: Vorsicht ist angesagt.

Das Wort Zitterpartie wird ansonsten in Wahlnächten mitunter gerne missbraucht - für diese regnerische Juninacht in Großbritannien trifft der Begriff zu.

Auch die Banker in der Londoner City halten den Atem an. Britische Medien berichten, Hedgefonds und andere Börsenleute hätten private Institute auf eigene Faust mit Exit Polls (Wähler-Nachbefragungen) beauftragt, die allerdings geheim bleiben sollen - Exklusiv-Informationen bedeuten bares Geld im Bankgewerbe.

Es heißt, die Banker in der City stünden in der Nacht Gewehr bei Fuß, um sofort handeln zu können - bekanntlich bedeutet Zeit ja auch Geld.

Wenig später nach dem historischen Referendum wagt sich Premierminister David Cameron auf Twitter. Vorsichtig und vage äußert er sich. „Dank an alle, die dafür gestimmt haben, dass Großbritannien stärker, sicherer und besser in Europa bleibt.“ Ist das mehrdeutig gemeint, kann man das schon als leise Siegesmeldung lesen. Doch auch hier: Vorsicht.

Die Nacht ist lang, als erstes Ergebnis trudeln die Zahlen von Gibraltar ein. Über 95 Prozent für Drinbleiben. Doch was sagt schon das Ergebnis aus einer britischen Mini-Enklave? In der Labour-Hochburg Newcastle fiel das Ergebnis für das Lager der EU-Befürworter viel knapper als erwartet aus. Auch das nur ein Fingerzeig.

Die Krux: Umfragen, Wählerbefragungen oder Hochrechnungen sind beim Referendum extrem schwierig. Erstens, meinen die Experten, weil es keine vergleichbaren Wahlen gab, an denen man sich orientieren könnte. Das Brexit-Referendum sei eben ein Unikum. Und zweitens, so die Fachleute weiter: Der Ausgang sei vermutlich einfach zu knapp, alle Zahlen bewegten sich noch innerhalb der üblichen Fehlermargen.

Vor über einer Woche sah es laut Umfrage schon beinahe so aus, als käme es zum Brexit - als habe sich Cameron gründlich verzockt. 2013 hatte er das Referendum ins Spiel gebracht - mit dem Ziel, Widersacher in den eigenen Reihen ruhigzustellen.

Lange Zeit hätte sich kaum jemand träumen lassen, dass das Rausgehen-Lager jemals eine Mehrheit erzielen könnte. Doch dann holten die Brexit-Leute mächtig auf, es war vor allem das Thema Migration, mit dem sie punkten konnten.

Zwei Stunden nach Schließung der Wahllokale: Farage, der Hardliner tritt nochmals vor die Kamera. Noch gebe er sich nicht geschlagen. Dann beginnt er, die Nachregistrierung von zwei Millionen Wählern zu kritisieren. Was bedeutet das? Plant er bereits, das Ergebnis, das vermutlich erst am Freitag zur Frühstückszeit vorliegt, anzufechten? Fest steht: Farage hat es mal wieder geschafft, dass alle über ihn reden.