Porträt: Gaddafi zwischen Wahn und Größenwahn
Istanbul (dpa) - Der libysche Machthaber Muammar al-Gaddafi ist launisch, unberechenbar und voller Widersprüche. Er genießt es, seine Mitmenschen zu überraschen, zu schockieren und vor den Kopf zu stoßen.
Deshalb wollte er auch nicht Präsident von Libyen werden, das erschien ihm zu gewöhnlich. Lieber schmückte er sich mit blumigen Titeln wie „Bruder Führer“ oder „König der Könige von Afrika“.
Den sachlich, nüchternen Politikern anderer Nationen fällt es indes oft sehr schwer, aus den erratischen Äußerungen des libyschen Despoten eine politische Strategie herauszulesen. Gaddafi behauptet erst, er kämpfe gegen Al-Kaida, dann wieder droht er damit, sich mit den Al-Kaida-Terroristen zu verbünden. In seinem jüngsten Brief an US-Präsident Barack Obama schreibt er, trotz aller Differenzen, „du wirst für immer mein Sohn bleiben“. Was bitte, soll das heißen?
Gaddafi ist nicht nur der dienstälteste, sondern auch mit Abstand der schrillste unter den arabischen Herrschern. Doch so unterhaltsam seine Camping-Aufenthalte in europäischen Parks auch gewesen sein mögen. Für die libysche Bevölkerung sind seine Eskapaden schon seit Jahren bitterer Ernst. Denn Kritik am „Bruder Führer“ wurde in Libyen stets mit Haft und Folter geahndet. Die Gemeinde der Exil-Libyer, die das Land verlassen haben, um einer Verhaftung zu entgehen, ist groß.
Gaddafi hält sich selbst für unfehlbar. Am liebsten hätte er nach der Machtergreifung 1969 gleich die gesamte arabische Welt mit seiner hausgemachten Volksbefreiungsideologie beglückt. Doch die Araber zeigten ihm die kalte Schulter. Deshalb wandte er sich dann den Afrikanern zu, die ihn freundlicher empfingen - wohl auch, weil er in der Rolle des reichen Onkels auftauchte, der Geschenke und Investitionen verteilte.
Der libysche Staatschef gilt als neurotisch und aufbrausend. Er misstraut fast jedem und verlässt sich am liebsten auf die eigene Familie. Gaddafi hat sein Land in einem wilden Zickzackkurs erst von der Monarchie in eine Art Volksrepublik geführt. Dann sorgte er dafür, dass Libyen international als einer der Hauptsponsoren des Terrorismus gebrandmarkt und mit Sanktionen belegt wurde. Im Jahr 2003 verkündete er dann plötzlich, Terror und Aufrüstung seien sinnlos. Deshalb werde er nun die Unterstützung von Extremistengruppen beenden und alle Programme zur Entwicklung von Massenvernichtungswaffen einstellen.
Belohnt wurde Gaddafi für diese Kehrtwende mit verbesserten Beziehungen zu mehreren westlichen Staaten. Besonders eng wurde der Kontakt zu Italien, wohl auch, weil sich Gaddafi und der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi auf der menschlichen Ebene bis vor einigen Tagen gut verstanden.
Nur eine Konstante gab es in Libyen, nachdem Gaddafi und seine Getreuen im Jahr 1969 König Idris al-Sanussi gestürzt hatten: Der „Bruder Revolutionsführer“, wie Gaddafi im offiziellen Diskurs genannt wird, hat immer Recht. Obwohl er kein öffentliches Amt bekleidet, ging ohne seinen Segen in Libyen in den vergangenen vier Jahrzehnten fast nichts. Widerspruch wurde nicht geduldet.
Gaddafi, der 1942 als Sohn eines nomadisierenden Bauern in der Nähe der Stadt Sirte geboren wurde, liebt den Kult um seine Person. Er ließ überall im Land seine Fotos in Überlebensgröße aufhängen. Diese auf Werbetafeln platzierten Bilder, die ihn wahlweise mit cooler Sonnenbrille oder in bunten Fantasiegewändern zeigten, bildeten zu Beginn der Revolte eine hervorragende Zielscheibe für die Wut der Aufständischen. Sie rissen überall im Land seine Fotos nieder, steckten die Plakate in Brand oder trampelten darauf herum.