Report: „Grüne Perle“ wird zum Ort des Grauens

Sundvollen/Norwegen (dpa) - Kein Windhauch trübt den See mit der kleinen Insel Utøya. Doch die friedliche Idylle trügt. Ein Schlauchboot mit vier Helfern und einem Suchhund fährt am Ufer des Tyrifjords entlang.

An der Straße am Ostufer des Sees stehen Leichenwagen.

Sie nehmen die auf der Insel oder im Wasser geborgenen Toten auf. Mindestens 85 Jugendliche hat der Attentäter Anders Behring Breivik im Sommercamp der Arbeiderpartiet - der sozialdemokratischen Arbeiterpartei - getötet. Das Massaker des mit zwei Schusswaffen ausgerüsteten Rechtsradikalen dauerte eineinhalb Stunden.

Am Samstagabend halten sich die Überlebenden in den Armen. Sie haben im Hotel der winzigen Straßensiedlung Sundvollen mit Ärzten, Psychologen und Geistlichen gesprochen, mit Eltern und Freunden, die gleich nach dem Blutbad herbeigeeilt waren.

Jetzt nimmt ein weißer Bus eine erste Gruppe mit. Ein etwa 17-jähriger Junge im Schlafanzug steigt ein. Ein Mädchen hat die Beine in eine lila Decke gewickelt. Ein Jugendlicher wischt sich die Tränen aus den geröteten Augen, sucht Trost bei einem anderen, gibt den Trost dann weiter an ein Mädchen in einem roten Ringelpulli.

„Wir versuchen, mit ihnen zu reden und ihnen zuzuhören, so dass sie uns sagen können, was ihnen zugestoßen ist“, sagt die lutherische Pfarrerin Torunn Aschin. „Sie haben so viele einzelne Geschichten über das, was ihnen zugestoßen ist, wie sie sich versteckt haben, wie sie aus dem Fenster gesprungen sind oder sich auf den Boden gelegt haben. Wie sie zum Fjord gelaufen sind und über den Fjord geschwommen sind.“

Einige haben sich wohl in der Nacht versteckt gehalten, sind erst am Samstag losgeschwommen. „Wir haben viele Leute heute aus dem Wasser gerettet“, sagt der Rotkreuzhelfer Jahn Petter Berentsen am Samstagabend in Sundvallen. Das Röde Kors, das norwegische Rote Kreuz, ist auch für den Rettungs- und Bergungseinsatz zuständig.

Als sie ins Wasser sprangen, stand der Täter am Ufer und schoss noch auf sie, erzählt der Taxifahrer Martin Engbretsen. Er habe die ganze Nacht Überlebende zum Hotel in Sundvollen gefahren. „Ein Jugendlicher sagte mir: Ein Schuss ging direkt an mir vorbei. Ich sah, wie der Baum neben mir von der Kugel getroffen wurde.“

Camper halfen mit Booten, die Fliehenden zu retten. Die durchnässten Überlebenden wurden zunächst in das nahe gelegene Haus eines Arztes gebracht und dort mit Decken und Handtüchern versorgt.

Die Fürsorge für die Überlebenden steht ganz im Mittelpunkt. „Wir sind hier, um eine helfende Hand zu bieten, eine Schulter zum Ausweinen und um Unterstützung zu geben“, erklärt der Rotkreuzhelfer Berentsen.

Etwa 700 Menschen waren nach Presseberichten am Freitag auf der Insel Utøya westlich von Oslo zusammengekommen. Auf der Website zum Sommercamp der sozialdemokratischen Jugendorganisation AUF wird die Insel als „grüne Perle“ bezeichnet. „Manche warten ungeduldig darauf, alte Freunde wiederzutreffen. Andere kommen zum ersten Mal. Utøya heißt alle willkommen.“ Neben dem frohen Beisammensein gehörten politische Schulungen zum Programm.

„Das ist ein Schlag gegen uns und ein dramatischer Schlag für Norwegen“, sagt Parteisekretär Raymond Johansen der Zeitung „Dagens Naeringsliv“. „Wir haben noch niemals einen solchen Angriff erlebt.“

Auch die kleine Ortschaft Ringerike, zwölf Kilometer nördlich von Sundvollen, steht ganz im Zeichen des Grauens. Auf dem Platz der Kleinstadt kommen am Abend Jugendliche zusammen und errichten ein Lichtermeer aus Kerzen. Die schreckliche Bluttat hat ihr Leben verändert, auf eine Weise, die weit über den Hinweis am Club „2 Brøda“ hinausreicht: „Geschlossen aufgrund der Ereignisse. Heute ist kein Tag für Alkohol.“