Report: Irak vor dem Staatszerfall

Bagdad (dpa) - Offiziell verkaufte die irakische Armee ihren Rückzug aus mehreren Orten im Norden und im Westen des Landes als „taktische Maßnahme“.

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Doch die Wortwahl eines hohen Offiziers konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Bagdads Soldaten dem Vormarsch der Isis-Terrormilizen nur wenig entgegenzusetzen haben. Die Einheiten der extremistischen Gruppe Islamischer Stadt im Irak und in Syrien (Isis) kontrollieren zusammen mit ihren einheimischen Verbündeten mittlerweile riesige Gebiete und wichtige strategische Punkte im Land. Immer mehr gelingt es ihnen, ihre Macht zu konsolidieren.

Die Auswirkungen für den Irak sind fatal. Dem Land droht ein neuer Bürgerkrieg und ein Zerfall in drei Teile. Im Norden und Westen ist die Isis auf dem besten Weg, ein sunnitisches Kalifat zu errichten - mit dem Ziel, auch die Hauptstadt Bagdad einzunehmen. Im irakischen Norden könnten die Kurden die Gunst der Stunde nutzen und einen eigenen Staat ins Leben rufen. Den Schiiten blieben die Gebiete im Süden des Landes, wo sie die Mehrheit stellen.

Wenig spricht derzeit dafür, dass die irakische Armee die verlorenen Gebiete zurückerobern kann, schon gar nicht ohne ausländische Hilfe. Schon Anfang des Jahres scheiterten Bagdads Soldaten kläglich mit dem Versuch, die westirakische Stadt Falludscha zurückzugewinnen - Isis erwies sich als zu stark, und die irakische Armee als zu schwach.

Washington stellt den Einheiten Bagdads ein verheerendes Zeugnis aus. Ein US-Regierungsbeamter sagte der „Washington Post“, die irakische Armee stehe nach dem Isis-Vormarsch vor einem „psychologischen Zusammenbruch“. Zehntausende seien fahnenflüchtig. Die Armee sei personell so schwach und so schlecht ausgerüstet, dass es Jahre dauern könne, bedeutendes Territorium zurückzuerobern.

Wenn überhaupt, dann gibt es für die Krise im Irak nur noch einen Ausweg: über die Bildung einer Einheitsregierung, in der sich Sunniten und Kurden auf Augenhöhe mit den Schiiten fühlen. Nur zusammen könnten die drei großen Gruppen im Land die Isis-Kämpfer zurückdrängen. Auch deshalb verlangte US-Außenminister John Kerry am Montag bei seinem Überraschungsbesuch in Bagdad vom schiitischen Regierungschef Nuri al-Maliki ein Kabinett der nationalen Einheit - dagegen sperrt sich der schiitische Politiker bislang jedoch, denn ein solcher Schritt würde wohl seinen Rücktritt bedeuten.

Die Nachbarländer beobachten die Entwicklung im Irak in hoher Alarmbereitschaft, weil ein Zerfall des Iraks die gesamte Region destabilisieren könnte. Ein islamistisches Isis-Kalifat auf irakischem Boden wäre eine permanente Gefahr für alle Anrainer. Extremisten hätten hier einen Rückzugsort, um in Ruhe Angriffe vorzubereiten. Der Bürgerkrieg in Syrien hat gezeigt, wie schnell ein Konflikt auf einen Nachbarn übergreifen kann - Isis nutzte die Erfolge in Syrien, um den Irak zu attackieren.

Besonders groß ist die Sorge in Jordanien und Saudi-Arabien. Beide Königreiche waren nach der US-Invasion im Irak 2003 schon einmal mehrfach Angriffsziel islamistischer Terroristen.

Für den schiitischen Iran wäre eine sunnitische Isis-Herrschaft im Irak gleichfalls eine potenzielle Bedrohung. Zerbricht der Irak, würde Teheran zudem massiv an Einfluss im Nachbarland verlieren. Bislang ist der Iran der wichtigste Verbündete Al-Malikis.

Eine Spaltung des Iraks dürfte auch erhebliche Auswirkungen auf das benachbarte Nato-Mitglied Türkei haben. Ein unabhängiges Kurdistan war für die Türkei mit ihrer eigenen kurdischen Minderheit lange Zeit ein rotes Tuch - schließlich könnten die türkischen Kurden ein ähnliches Recht einfordern.

Allerdings wäre ein kurdischer Pufferstaat zwischen der Türkei und einem möglichen Isis-Kalifat vielleicht auch für Ankara attraktiv. Aufmerksam wurde registriert, dass ein Sprecher der Regierungspartei AKP kürzlich dem kurdischen Nachrichtenportal „Rudaw“ sagte, die Kurden im Irak hätten ein Selbstbestimmungsrecht. „Die Türkei entscheidet nicht für sie.“ So könnten die Kurden am Ende als einziger Gewinner aus der Krise hervorgehen - und endlich ihren Traum vom eigenen Staat verwirklichen.