Report: KZ-Wärter Demjanjuk schuldig

München (dpa) - Schuldig und doch auf freiem Fuß: Der frühere KZ-Wachmann John Demjanjuk ist zwar wegen tausendfacher Beihilfe zum Mord an Juden zu fünf Jahren Haft verurteilt worden, muss aber nicht ins Gefängnis.

Das Urteil nimmt er ohne sichtbare Regung auf, die schwarze Sonnenbrille verdeckt seine Augen. Für den Schuldspruch wird der Greis, der eineinhalb Jahre lang in einem Bett liegend den Prozess verfolgte, im Rollstuhl vor die Richterbank gebracht.

Einige der zum Urteil angereisten Angehörigen der Opfer haben Tränen in den Augen, als Richter Ralph Alt die Gräueltaten in den Vernichtungslagern der Nazis schildert. In einem der letzten NS-Verbrecherprozesse verurteilte das Münchner Landgericht den gebürtigen Ukrainer am Donnerstag wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 28 060 Juden 1943 im Vernichtungslager Sobibor.

Das Gericht hob allerdings den Haftbefehl auf. Es gebe keine Fluchtgefahr, da Demjanjuk staatenlos sei und nicht ausreisen könne. Eine Nacht wird er noch im Gefängnis bleiben, wohin er danach gehen soll, ist unklar. Allein versorgen könnte sich der 91-Jährige nicht mehr. So wird er wohl in einem Altenheim untergebracht werden müssen. Zurück nach Hause in den US-Bundesstaat Ohio zu seiner Familie, von der niemand zum Urteil kam, kann Demjanjuk auch nicht. Ihm wurde die US-Staatsbürgerschaft aberkannt.

„Wir haben gewonnen, und wir haben verloren“, sagt der 90-jährige Jules Schelvis, dessen Frau kurz nach der Hochzeit in Sobibor ermordet wurde. „Das, was wir verloren haben, ist aber viel größer. Das kann nie wieder gutgemacht werden.“ Schelvis, nur wenige Monate jünger als Demjanjuk, hatte sich angesichts des hohen Alters des Angeklagten in seinem Schlusswort als Nebenkläger für einen Schuldspruch ohne Strafe ausgesprochen. Mit anderen Opferangehörigen und Holocaust-Überlebenden, von denen einige die ganze Familie verloren haben, ist er extra zum Urteil aus den Niederlanden angereist.

„Es bleibt eine offene Wunde“, sagt Paul Hellmann mit Tränen in den Augen. „Ich habe nicht gedacht, dass es für mich noch einmal so schockierend ist.“ Dennoch sei es gut, dass in dem Prozess die Geschehnisse in Sobibor öffentlich geworden seien. Das Strafmaß sei nicht wichtig gewesen, betonten viele Nebenkläger. Der Schuldspruch aber sei eine späte Genugtuung, sagt Robert Fransman: „Er ist mit schuld am Mord an meinen Eltern.“

Die Trawniki wie Demjanjuk hätten in den Vernichtungslagern bei allen Arbeiten mitgeholfen, fasst Richter Alt die Beweisaufnahme zusammen. Beim Entladen der in den Zügen zusammengepfercht ankommenen Menschen, bei ihrem Entkleiden und dem Einsammeln ihrer Wertgegenstände. Die Trawniki - meist osteuropäische „Hilfswillige“, die im SS-Lager Trawniki ausgebildet worden waren - hätten die Opfer auf der sogenannten Himmelfahrtstraße in „fabrikmäßig zu bezeichnender Weise“ zu den Gaskammern getrieben und anschließend die verschlungenen Körper herausgeholt und verbrannt. „Die Trawniki-Leute waren in allen Phasen der Ermordung der Juden beteiligt“, resümiert Alt.

Die Taten hätten eine Höchststrafe gerechtfertigt, sagte Alt. Er berücksichtigte aber das hohe Alter des Angeklagten, die lange Zeitspanne seit den Taten und die frühere gut achtjährige Haft in Israel, wenngleich diese nicht angerechnet werden kann.

Die Fronten in diesem Prozess lagen bis zum Schluss extrem weit auseinander. Während die Verteidigung, die gegen das Urteil umgehend Revision einlegte, immer wieder darauf verwies, dass die Trawniki unter Zwang handelten, sahen Opfer-Angehörige die Wachmänner voll in der Mitschuld. Gerade deshalb war ihnen das Verfahren so wichtig: als vielleicht letzte Chance, die Rolle der Wachmänner in der Vernichtungsmaschinerie zu klären.

Während die Verteidigung das Verfahren als rechtswidrig bezeichnete, lobten Holocaust-Überlebende den Mut von Gericht und Staatsanwaltschaft, das heiße Eisen anzupacken. Erst einmal zuvor war in Deutschland ein Trawniki verurteilt worden: Franz Swidersky, Wachmann im Zwangsarbeitslager Treblinka, erhielt 1971 sieben Jahre Haft.

Demjanjuk selbst hat in dem eineinhalbjährigen Prozess nie sein Schweigen gebrochen. Kein Bekenntnis, keine Entschuldigung, nicht einmal ein Schlusswort, auf das vor allem die Opfer-Angehörigen so sehr gehofft hatten. Auf die Frage Alts, ob er sein Recht des letzten Wortes in Anspruch nehmen wolle, schüttelt er nur den Kopf: „Nein.“ Demjanjuk, der auf den Tag genau vor zwei Jahren nach seiner Abschiebung aus den USA in München angekommen war, verließ das Gericht trotz des Schuldspruchs zunächst als freier Mann.

Auch neben der Revision, über die der Bundesgerichtshof eventuell erst im nächsten Jahr entscheiden könnte, ist das juristische Tauziehen um Demjanjuk möglicherweise noch nicht zu Ende: Spaniens Justiz hat einen europäischen Haftbefehl gegen Demjanjuk erlassen und die Auslieferung beantragt. Sie ermittelt gegen ihn wegen Beihilfe zum Völkermord. Es geht um den Tod von 60 spanischen Gefangenen im KZ Flossenbürg. Dort soll er nach Sobibor Wachmann gewesen sein.