Report: Tausende Ukrainer vereint in Stolz und Trauer
Kiew (dpa) - Sie schwenken die ukrainische Staatsflagge, halten Plakate mit der Aufschrift „Wir sind Europa“ in die Höhe und skandieren „Tod den Feinden“.
Etwa 10 000 Menschen sind an diesem grauen Februartag im Zentrum von Kiew zusammengekommen. Sie ehren ein Jahr nach den prowestlichen Massenprotesten auf dem Maidan (Unabhängigkeitsplatz) die damals getöteten Demonstranten. Und sie schreien ihren Schmerz über den Krieg im Osten des Landes heraus.
Neben Bundespräsident Joachim Gauck und dem EU-Ratsvorsitzenden Donald Tusk sind zahlreiche Staats- und Regierungschefs nach Kiew gereist. Rund 4000 Polizeikräfte, teils in Tarnuniform, sichern den „Marsch der Würde“. Doch es herrscht eine ruhige Atmosphäre. Menschen aller Glaubensrichtungen sind gekommen, aller Gesellschaftsschichten und aller Altersgruppen - allein, mit Freunden oder mit Kollegen.
Gemächlich schreitet die Menge am Dynamo-Fußballstadion vorbei. Wie poliert glänzt die Bronzestatue des berühmten Trainers Waleri Lobanowski (1939-2002), der als „Sepp Herberger der Ukraine“ verehrt wird. Und in frischem Weiß strahlt das Eingangstor des Stadions - nichts ist mehr zu sehen vom Ruß brennender Autoreifen, die Demonstranten hier im Kampf gegen Sondereinheiten als Feuerwall nutzten. Die Bilder der Straßenschlachten gingen damals um die Welt.
Nachdem die ukrainische Führung die Unterzeichnung eines Partnerschaftsabkommens mit der EU abgelehnt hatte, demonstrierten Tausende gegen eine Annäherung an Russland. Am Ende schlug der winterliche Widerstand in Gewalt um, Dutzende Regierungsgegner wurden von Scharfschützen im überhitzten Fieber der Proteste getötet. Das Blutbad ist auch ein Jahr später nicht völlig aufgeklärt.
„Ruhm der Ukraine - Ehre den Helden“ schallt es über die Straße, als die Menge den Maidan erreicht. Gauck und sein ukrainischer Amtskollege Petro Poroschenko haken sich unter. Und auch die oft zerstrittene ukrainische Politprominenz demonstriert Einigkeit. Der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko marschiert unweit der früheren Regierungschefin Julia Timoschenko, nur etwas abseits geht Ministerpräsident Arseni Jazenjuk.
Mit roten Windlichtern stehen sie nun unter der 62 Meter hohen Unabhängigkeitsstatue, auf deren Spitze eine vergoldete Frauenfigur steht. Es ist kühl, nur etwa plus drei Grad Celsius. Am Mantel der litauischen Präsidentin Dalia Grybauskaite flattert ein Anstecker in den ukrainischen Nationalfarben gelb und blau, neben ihr zieht der polnische Staatschef Bronislaw Komorowski den Kragen etwas höher.
Vor einem aus Windlichtern errichteten, riesigen Dreizack - dem Symbol ukrainischer Staatlichkeit - geht Poroschenko in die Knie und bekreuzigt sich. „Der Unabhängigkeitsplatz ist ein sakraler, heiliger Ort für jeden Ukraine“, sagt auch der prominente Maidan-Aktivist und Ex-Kulturminister Jewgeni Nischtschuk.
Es geht mehr als um ein Gedenken. Bei dem „Marsch der Würde“ soll auch die nationale Einheit, das Zusammenrücken in der größten Krise des Landes seit Beginn der Unabhängigkeit 1991 manifestiert werden. Mehr als 100 Menschen starben bei den Protesten, die Halbinsel Krim ist von Russland einverleibt, und im Osten starben im Kampf mit moskautreuen Separatisten bereits mehr als 5000 Menschen. Das ist die eine Seite - der zweite Aspekt ist für viele der demokratische Aufbruch der krisengeschüttelten Ex-Sowjetrepublik.
In der umkämpften Ostukraine wecken am Wochenende ein Austausch von insgesamt 200 Gefangenen zwischen der Armee und den Aufständischen sowie ein vereinbarter Abzug schwerer Waffen kurz Hoffnung auf Entspannung. Doch mitten in das Gedenken in Kiew platzt die Nachricht von einem Anschlag in der Stadt Charkow. Mindestens zwei Menschen sterben. Und östlich der Hafenstadt Mariupol sollen um den Ort Schirokino neue Kämpfe aufgeflammt sein. Die Lage im zweitgrößten Land Europas bleibt instabil.