Reportage: Szenen wie nach einem Krieg
Tokio (dpa) - Tod und Zerstörung. In Japan hat ein verheerendes Erdbeben mit anschließendem Jahrhundert-Tsunami riesige Verwüstungen angerichtet. In Industrieanlagen und in einem Atomkraftwerk brachen Feuer aus.
Es sind Szenen wie nach einem Krieg. Stadtteile liegen in Schutt und Asche, unzählige Wohnhäuser und Bauernhöfe versinken unter den tödlichen Wassermassen eines zehn Meter hohen Tsunamis. Gewaltige schlammige Flutwellen schieben Häuser, Autos und Trümmer über Reisfelder. Dichte Rauchwolken steigen in den Himmel. Riesige Brände brechen in der japanischen Stadt Kesennuma in der mit am schwersten betroffenen nordöstlichen Provinz Miyagi aus.
Die Zahl der Toten steigt rasant, zahlreiche Menschen werden noch immer vermisst. Während starke Nachbeben die Einwohner in Atem halten und die örtlichen Behörden weiter vor meterhohen Flutwellen warnen, schlägt die Regierung am späten Abend plötzlich Atomalarm: Tausende Anwohner eines Kernkraftwerks werden dringend aufgefordert, sich vor möglichen radioaktiven Lecks in Sicherheit zu bringen.
Der Alptraum bricht gegen 14.45 Uhr Ortszeit (06.45 Uhr) über das in Wohlstand lebende Inselreich herein. Plötzlich fängt der Boden an zu beben. Die Erschütterungen sind heftig, wollen nicht enden. In der besonders betroffenen Präfektur Miyagi trifft eine zehn Meter hohe Wasserwand auf die Küste. Häuser, Autos, Menschen werden fortgerissen.
In den Straßen der am schlimmsten betroffenen Provinzen im Nordosten versperren Berge von zertrümmerten Häusern, Autos und Containern die Straßen und Häfen. In den Fluten treiben Häuser, gekenterte Boote und Autos. Schiffe werden an die Kaimauern geschleudert. Schulen und Sporthallen verwandeln sich in Notlager. Als die Dunkelheit einsetzt, hocken alte Frauen, Männer und Kinder frierend in der Finsternis, da überall der Strom ausgefallen ist.
„Es ist grauenhaft, grauenhaft“, sagt ein Frau. „Ich mache mir Sorgen, dass mein Haus eingestürzt ist“, sagt eine andere. Auch Stunden nach dem Beben ist die Stromversorgung noch immer unterbrochen. „Wir haben keine Informationen“, klagt eine Hausfrau im Fernsehen. Viele der Opfer sind alte Menschen, in den Notlagern trösten Angehörige ihre Großmütter und Großväter, wickeln sie in Decken, kauern an Ölöfen.
Es ist bitterkalt, in einigen Gebieten fällt Schnee. Die unermüdlichen Einsatzkräfte versuchen, so schnell wie möglich Wasser, Nahrung und Medikamente herbeizuschaffen. In Tokio bittet die Regierung die Schutzmacht Amerika, ihre Soldaten zur Verstärkung einzusetzen. Regierungschef Naoto Kan ruft die Bürger auf, ruhig zu bleiben und spricht den Opfern sein Mitleid aus. Die Regierung werde alles tun, um die Schäden zu begrenzen.
Das stärkste jemals in Japan gemessene Erdbeben hat die Bewohner der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt auf schockierende Weise an ihre Verwundbarkeit erinnert. Auch in der Millionen-Hauptstadt Tokio stürzen die Regale in Geschäften ein, an einzelnen Stellen brechen Feuer aus. Überall fällt der Strom aus, Ampeln werden dunkel, schnell bilden sich endlose Staus.
„Sowas habe ich noch nie in meinem Leben gesehen, kein Zug, kein Gas, kein Telefon, kein Taxi, keine Lebensmittel in den Supermärkten“, schildert eine 35-jährige Hausfrau in Tokio. „Jeder hier in Tokio ist seit der ersten Erschütterung auf die Straße raus, sie gehen alle zu Fuß nach Hause.“ Auf dem Kopf tragen viele weiße Helme aus Furcht vor herabfallenden Trümmern.
Hätte die Natur mit ähnlicher Gewalt direkt in Tokio zugeschlagen, hätte es auf einen Schlag zig Tausende von Toten geben können. Die seit 1981 gebauten Hochhäuser, von denen in jüngster Zeit immer spektakulärere entstanden sind, sind zwar angeblich erdbebensicher, dennoch gibt es in der 13-Millionen-Stadt genug Brennbares und Explosives: Gasrohre, Tankstellen, Chemielager.
Benachbarte Regionen erleben an diesem Tag genau dieses Horrorszenario: In der Nachbarprovinz Chiba bricht in einer Raffinerie Feuer aus, es folgt eine Explosion. Noch am Abend kämpft die Feuerwehr gegen die gewaltigen Brände. Auch an vielen anderen Stellen brechen Feuer aus.
Japan hat zwar ein fast lückenloses Mess- und Vorwarnsystem für Erdbeben und Flutwellen. Verlässliche Prognosen gibt es aber nicht. Ein Beben der Stärke 7,2 hatte in Kobe 1995 mehr als 6400 Menschen das Leben gekostet. Und wie damals werden sich die Japaner auch diesmal wieder fragen: Wie kann man sich auf Erdbeben einstellen, wie kann man sich besser vor der Naturgewalt schützen? Letztlich bleibt den Japanern nur die Erkenntnis, dass sich abgesehen von Auswanderung nichts anderes tun lässt, als sich mit der Tatsache abzufinden, auf einem Pulverfass zu leben.