Analyse Rot-Rot-Grün in Berlin „zum Erfolg verdammt“

Berlin (dpa) - Erst als ihm jemand das Ergebnis ins Ohr flüstert, traut sich Michael Müller zu lächeln. 88 Ja-Stimmen, 7 mehr als nötig. Das war anscheinend eindeutiger, als Berlins neuer und alter SPD-Regierungschef insgeheim erwartet hatte - auch wenn ihm wohl 4 Leute aus dem eigenen Lager die Zustimmung verweigerten.

Müller ist jetzt Chef der bundesweit ersten SPD-geführten rot-rot-grünen Landesregierung - und er steht enorm unter Druck.

Am Morgen liegt er zur Unterschrift da, der 187 Seiten starke Koalitionsvertrag - ganz schick als Hardcover gebunden. „R2G“ (Neudeutsch für Rot-Rot-Grün) steht auf dem silbernen Kugelschreiber, den die Ex-Spitzenkandidaten Müller (SPD), Klaus Lederer (Linke) und Ramona Pop (Grüne) zur Unterschrift nutzen. Man hat keine Kosten und Mühen gescheut, um die Koalition von Anfang an auf einen guten Weg zu bringen. Rund eineinhalb Stunden später ist dann offiziell, dass der alte, bisher mit der CDU regierende Bürgermeister auch der neue ist.

Rot-Rot-Grün will jetzt alles richtig machen in Berlin. Luft nach oben ist reichlich da. Denn zuletzt lief es in der Hauptstadt alles andere als rund. Um ganz sicher zu gehen, haben die neuen Partner die Details in ihrem Regierungsprogramm ungewöhnlich haarklein verankert. Sogar die maximale Wartezeit auf Bürgeramtstermine für Parkvignette oder Passverlängerung steht drin: 14 Tage. Viele Berliner, die täglich mit Verwaltungschaos kämpfen, dürften ungläubig den Kopf schütteln.

Und das ist nicht einmal das ehrgeizigste Ziel: Rot-Rot-Grün will nicht weniger, als Berlin - Glitzermetropole und Hartz-IV-Hauptstadt zugleich - komplett umkrempeln: Zehntausende neue Wohnungen, mehr Unterstützung für sozial Schwache, Sanierung hunderter Schulen, mehr Verwaltungspersonal, mehr Radwege, Bus- und Bahnverkehr. Die Liste ist lang - und teuer. Und alle sind sich bewusst, dass im Hinblick auf die Bundestagswahl 2017 viele Augen auf „R2G“ in Berlin gerichtet sind, ebenso wie auf Thüringen, wo die drei Parteien unter Führung des Linke-Ministerpräsidenten Bodo Ramelow regieren.

„Wir wollen schnell loslegen“, kündigt Müller an. Ob es bei SPD, Linken und Grünen auch künftig so harmonisch läuft wie bei der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags, als sich alle herzten und umarmten, bleibt aber abzuwarten. Denn die Partner gehen mit höchst unterschiedlichen Voraussetzungen ans Regieren.

Die Linke, die schon 2002 bis 2011 mit der SPD regierte und als einzige der drei Parteien bei der Wahl am 18. September zugelegt hatte, wirkt selbstbewusst, gestärkt und geschlossen. Sie bekam mit Wohnen, Soziales/Integration und Kultur ihre Wunschressorts, befragte als einzige alle Parteimitglieder zum Koalitionsvertrag: Knapp 90 Prozent sagten Ja. Kein Wunder, dass der Parteichef und neue Kultursenator Klaus Lederer über ein „großartiges Ergebnis“ jubelte.

Auch die Grünen, in Berlin viele Jahre tief zerstritten und in Flügelkämpfen gefangen sowie seit eineinhalb Jahrzehnten nicht in Regierungsverantwortung, demonstrierten während der Verhandlungen Geschlossenheit und Einigungswillen. Um (fast) jeden Preis wollten sie ein Drama wie 2011 vermeiden, als die Koalitionsgespräche mit der SPD wegen eines Autobahnteilstücks in letzter Minute platzten. Zwar kamen bei der Postenvergabe nicht alle ihre Flügel und städtischen Strömungen in gewünschtem Maße zum Zug, gleichwohl sagte ein Parteitag geschlossen Ja zu „R2G“. Dennoch ist auch noch Misstrauen da und die Furcht, zwischen SPD und Linke zerrieben zu werden.

Und die SPD? Sie darf mit Müller weiterregieren, obwohl sie der eigentliche Wahlverlierer war und ein historisch schlechtes Ergebnis von 21,6 Prozent einfuhr. Die Aufarbeitung des Desasters geschah nur rudimentär, Müller ist in der Partei nicht bei allen beliebt. Zudem liegt ein Schatten über ihm, weil die Staatsanwaltschaft gegen seinen Staatskanzlei-Chef Björn Böhning im Zusammenhang mit der Vergabe eines Beratervertrags ermittelt. Und vor wenigen Tagen blieben Berichte unwidersprochen, nach denen Müller im Zusammenhang mit einer SPD-Personalie mit Rücktritt gedroht haben soll. SPD-Fraktionschef Raed Saleh drückt es so aus: „Wir sind zum Erfolg verdammt.“