Rückblick: 2010 als Jahr der Katastrophen
Berlin (dpa) - Apokalyptische Bilder aus Haiti: Hunderttausende sterben bei einem Erdbeben. 2010 ist nach Einschätzung eines Experten ein „sehr massives Katastrophenjahr“ gewesen. Schlagzeilen machen auch die Überschwemmungen in Pakistan und die Waldbrände in Russland.
35 Sekunden reichen, um eine Welt zusammenstürzen zu lassen. Am 12. Januar um 16.53 Uhr Ortszeit erschüttert ein gewaltiges Erdbeben Haiti. Die Bilanz der Katastrophe: Mehr als 220 000 Tote, 310 000 Verletzte und 1,2 Millionen Obdachlose. Die Hauptstadt Port-au-Prince liegt in Schutt und Asche. Neun Monate später bricht zudem noch die hochansteckende Cholera aus.
Auch für Pakistan bringt das Jahr 2010 Tod und Leid: Nach Monsunregen und Überschwemmungen sterben mehr als 1700 Menschen, Medien sprechen von den schlimmsten Fluten seit etwa 80 Jahren. Bilder wie aus dem Krieg auch in Russland: Die verheerendsten Wald- und Torfbrände in der Geschichte des Landes zerstören riesige Gebiete.
„2010 war ein sehr massives Katastrophenjahr“, sagt Frank Roselieb, Direktor des Instituts für Krisenforschung in Kiel. „Es hat noch nie so einen Fall wie in Haiti gegeben, dass so viele Tote auf einer so kleinen Fläche zu beklagen waren.“ Die Hilfsbereitschaft ist groß, vor allem für Haiti spenden viele Menschen in Deutschland, die Not in Pakistan dagegen dringt zunächst nur zögerlich ins Bewusstsein.
Sowohl die Katastrophen in Haiti, Pakistan als auch Russland hält Roselieb für menschengemacht. „In Haiti hat es immer Erdbeben gegeben. Das Problem ist, dass es immer mehr Menschen gibt, die in Regionen siedeln, die dafür nicht geeignet sind“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler. Ähnlich sei die Lage in Pakistan. „In Russland hat man die Grundregeln der Forstwirtschaft nicht mehr beachtet, Monokulturen wurden gepflanzt, Sümpfe trockengelegt, es fehlte an Infrastruktur und Hilfe wurde zu spät angenommen.“
Apokalyptische Bilder gehen nach dem Erdbeben in Haiti um die Welt, viele Menschen in Deutschland wollen helfen. Für den Karibikstaat kommen 195 Millionen Euro zusammen, für Pakistan 161 Millionen Euro, teilte das Deutsche Zentralinstitut für soziale Fragen (DZI) mit. „In Haiti war die Spendenbereitschaft höher, viele Menschen kennen das Land wegen seiner Nähe zur touristischen Dominikanischen Republik, da war die Betroffenheit größer“, erklärt DZI-Geschäftsführer Burkhard Wilke. „Hinzu kommt, dass viele von Pakistan eine sehr gemischte Vorstellung haben, die Stichwörter hier sind Atommacht und Taliban. Außerdem drangen die Bilder von den Überschwemmungen erst nach und nach ins Bewusstsein, in Haiti war die Hauptstadt in Sekunden zerstört.“
Den Erdstößen der Stärke 7,0 folgen mehr als zehn Nachbeben. Das Epizentrum liegt etwa 16 Kilometer westlich von Port-au-Prince. Auch mehrere Deutsche sind unter den Toten. Schon vor der Katastrophe war Haiti bitterarm, etwa 80 Prozent der zehn Millionen Einwohner leben mit zwei US-Dollar täglich am Existenzminimum. Hunderttausende Bewohner der Hauptstadt verlieren alles. Überall liegen Leichen. „Dies ist das Ende der Welt“, sagt Elmond Chere, ein Friedhofswärter im Januar. „Wir sind geliefert.“
Manche Haitianer glauben, es könne Jahrzehnte dauern - wenn nicht ein Leben lang -, bis ihr Land wiederaufgebaut ist. Auf internationalen Geberkonferenzen werden Milliarden zugesagt, doch anders als die ersten Soforthilfen fließen sie nur zögerlich. Auch Monate nach der Katastrophe gleicht Port-au-Prince noch einer Trümmerlandschaft. Als im Oktober die Cholera ausbricht, entlädt sich die Wut der Menschen vielerorts in gewalttätigen Protesten.
Auch das wochenlang von einer Jahrhundertflut heimgesuchte Pakistan ist ein schwaches Land - es kämpft mit einer strauchelnden Wirtschaft, Terrorattacken von Selbstmordattentätern und politischer Instabilität. Gut 20 Millionen Menschen leiden unter den Überschwemmungen, unter ihnen mehr als acht Millionen Kinder. Die verwüstete Fläche ist mit 160 000 Quadratkilometern fast halb so groß wie Deutschland, die Wassermassen zerstören etwa zwei Millionen Häuser und oftmals die Ernte. Viele Flutopfer werfen ihrer Regierung Versagen vor.
In Russland sterben bei den schlimmsten Wald- und Torfbränden in der Geschichte des Landes mindestens 60 Menschen. Eine Rekordhitze erschwert den Kampf gegen die Flammen: Russland leidet unter dem heißesten Sommer seit mehr als 130 Jahren. Die Behörden registrieren 7000 Brände, der Staat verhängt in mehreren Regionen den Ausnahmezustand. „Russland brennt!“ schrieb die Moskauer Zeitung „Kommersant“. Nuklearanlagen müssen vor den Flammen geschützt werden. Erst nach einigem Zögern nimmt Kremlchef Dmitri Medwedew internationale Hilfe an. Bis Ende August sind etwa 9000 Quadratkilometer verbrannt - eine Fläche mehr als dreieinhalbfach so groß wie das Saarland.
Schlagzeilen macht im ablaufenden Jahr auch der indonesische Vulkan Merapi: Anfang November kommt es zur schwersten Eruption seit Jahrzehnten, immer wieder bricht der Feuerberg in den Tagen danach aus, mehr als 300 Menschen sterben. Ebenfalls in Indonesien, auf den Mentawai-Inseln westlich von Sumatra, reißt ein Tsunami mehr als 440 Einwohner in den Tod. Am 25. Oktober hatte ein Erdbeben der Stärke 7,7 die Flutwelle ausgelöst. In Chile ereignet sich im Februar mit 8,8 eines der stärksten Erdbeben der Geschichte. Die Erdstöße lösen einen Tsunami aus, an der Infrastruktur entstehen Milliardenschäden, 521 Menschen verlieren ihr Leben.
Der Wissenschaftler Roselieb hält es für unbedingt nötig, die Vorsorge auszubauen, um Katastrophen zu verhindern oder abzumildern. Dies gelte für Industrie- und Entwicklungsländer gleichermaßen. „Die Forschung kann nur warnen, aber keine Besiedlungspolitik machen“, sagt Roselieb. Außerdem regt er einen Katastrophenfonds an, in den die Bürger regelmäßig einzahlen sollten, anstatt spontan zu spenden.
Auch Wilke ist sich sicher, dass staatliche Hilfe zur Bewältigung von Katastrophen nicht ausreicht. „Beim Tsunami 2004 kam mehr als ein Drittel der weltweiten Unterstützung aus privater Hand. Zudem können Nichtregierungsorganisationen unabhängiger entscheiden als Regierungen.“ Trotz der Wirtschaftskrise sei die Spendenbereitschaft der Deutschen in etwa stabil geblieben. Pro Jahr kämen etwa fünf Milliarden Euro zusammen.