Analyse Stadt in Angst: Die Bombe von Kabul und ihre Konsequenzen

Kabul (dpa) - Die Bürger von Kabul haben in diesem Jahr schon viel Grausames durchlitten. Terroristen, die sieben Stunden in einem Krankenhaus um sich schossen und Handgranaten in Patientenbetten warfen - mindestens 49 Tote.

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Ein Angriff auf einen Nato-Konvoi inmitten des dichtesten Verkehrs - mindestens acht Tote. Ein Selbstmordattentäter vor einem Gericht - mindestens 22 Tote. Aber die Lastwagenbombe, die Mittwochmorgen mitten im Diplomaten- und Regierungsviertel der Hauptstadt explodiert ist, die übertrifft die anderen Attentate noch.

Die Fakten: ein ganzer Tanklaster gefüllt mit Sprengstoff. Eine Explosion, die Dutzende von Autos voller Zivilisten in Flammen aufgehen und ausbrennen lässt, die Passanten zerfetzt und in den umliegenden Büros den Menschen die Splitter von Fensterscheiben ins Fleisch treibt. Ein Knall, der in der ganzen Stadt widerhallt und in den Menschen Angst aufflackern lässt: Wo sind mein Bruder, mein Vater, meine Mutter? Es ist, als hätten die Attentäter sich das blutigste denkbare Szenario ausgedacht - und es in die Tat umgesetzt.

Mindestens 90 Menschen sind nun tot, vermutlich mehr. Rund 460 Menschen sind verletzt. Zuvor war von 80 Toten berichtet worden. Vor den Krankenhäusern bilden sich lange Schlangen verzweifelter Menschen, die ihre Angehörigen suchen.

Wo die Attentäter mit ihrer fahrbaren Bombe hinwollten, ist noch unklar. Sie ist sehr nahe der deutsche Botschaft explodiert, aber bisher sagt niemand, die Deutschen seien das Ziel gewesen. In unmittelbarer Nähe gab es Ziele zuhauf: der Präsidentenpalast, Ministerien, das Nato-Hauptquartier, viele weitere Botschaften, aber auch große Supermärkte und die Büros von Mega-Unternehmen wie die der Telekommunikationsfirma Roshan. Unter den Toten sollen viele Mitarbeiter von Roshan sein.

Vielleicht ist die Bombe genau da in die Luft gegangen, wo sie in die Luft gehen sollte: an einer belebten Straße zwischen hohen Sprengschutzmauern, die die Druckwelle der Explosion kaum entweichen ließen, und wo jeden Morgen Tausende auf dem Weg zur Arbeit entlang müssen. So hätten die oder der Attentäter - die sich zu ihrer Tat zunächst nicht bekannten - eine große Bandbreite von Afghanen erwischt, die für die allen Islamisten verhasste Regierung arbeiten und für die Ausländer, die von ihnen als „Besatzer“ wahrgenommen werden. Haben Angst gesät in zentralen Schaltstellen der Regierung und unter jenen, die versuchen, sie zu unterstützen.

Die Vorstellung, dass die Attentäter mit so viel Sprengstoff in das politische Zentrum des Landes fahren konnten, ist lähmend, und es wird dazu beitragen, dass die Afghanen ihre zerstrittene, ineffektive Regierung mit noch mehr Bitterkeit betrachten. Es ist ein ultimatives, blutiges Argument gegen den Demokratieversuch im Land.

Gegen die Ansicht von Innenminister Thomas de Maizière (CDU), dass Kabul weitgehend sicher ist für abzuschiebende Migranten, scheint der Anschlag allerdings nicht viel auszurichten. Die Narrative hat er fast jedes Mal wiederholt, wenn wieder abgelehnte Asylbewerber nach Kabul geflogen wurden. Und selbst jetzt, wo das Hauptgebäude der deutschen Botschaft verwüstet und von der Wucht der ungeheuren Explosion so nackt hinterlassen wurde wie ein Rohbau, nachdem ein afghanischer Wächter starb und Mitarbeiter verletzt wurden, scheint er einer Neubewertung der Lage auszuweichen.

Am Donnerstagmorgen sollte ein weiterer Abschiebeflug mit abgelehnten Asylbewerbern landen. Der wird jetzt verschoben. Nicht, weil in Kabul seit Jahresanfang in nunmehr acht großen Anschlägen Hunderte Zivilisten getötet oder verletzt wurden, sondern weil die Botschaft nach dem Anschlag Wichtigeres zu tun hat.

„Die deutsche Botschaft in Kabul hat eine wichtige logistische Rolle beim Empfang rückgeführter Personen vor Ort“, heißt es am Mittwoch aus den Regierungskreisen. „In den nächsten Tagen wird es daher keine Sammelrückführung geben.“ Der Flug, so sagt De Maizière, werde aber „bald möglichst nachgeholt“. Die generelle Linie der Regierung ändere sich nicht.

Dazu gehört eine erstaunlich dicke Haut, wenn man bedenkt, dass die deutschen Staatsstellen in Kabul selbst die Sicherheitslage als gefährlich einschätzen und sich einigeln. Die staatliche deutsche Entwicklungshilfeorganisation GIZ wird in wenigen Wochen ihre Büros in der Stadt aufgeben und in ein schwer gesichertes Lager am Stadtrand ziehen. Und Sicherheitsquellen sagen, auch die deutsche Botschaft habe geplant, den Schutz zu verstärken und Büros weiter in andere Gebäude im Inneren des Geländes zu verlegen. Man habe sich exponiert gefühlt in diesem Haus an einer belebten Straßenecke.

Kabul ist keine sichere Stadt. Im vergangenen Jahr schon sind so viele Zivilisten dort gestorben wie seit dem Bürgerkrieg in den 90er Jahren nicht mehr. Um ganze 75 Prozent waren die Zahlen in die Höhe geschossen, verglichen mit 2015. In diesem Jahr liegt Kabul in Sachen zivile Opfer wieder vor allen anderen Städten im Land. Nun mit großem Abstand. Kabul war eine nervöse Stadt in den vergangenen Monaten. Seit Mittwoch ist es eine Stadt in Angst.