Nach der Messerattacke Stolz auf Hamburgs mutige Helden

Hamburg (dpa) - Als es zur Messerattacke in einem Hamburger Supermarkt kommt, sitzen sie vor einer Bäckerei ganz in der Nähe - wenig später werden einige von ihnen als die „Helden von Barmbek“ gefeiert.

Nach der Messerattacke: Stolz auf Hamburgs mutige Helden
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Es sind mehrere Gäste, die aufspringen und sich die Stühle schnappen, als der Mann mit dem Messer in ihrer Nähe auf der Straße auftaucht, wie die Backshop-Betreiber berichten. Eine Frau habe geschrien, dass jemand Menschen absteche, erinnert sich Jamel Chraiet (48) am Tag nach der Bluttat. Der gebürtige Tunesier war mit Landsleuten in dem Café. „Plötzlich haben wir einen Mann gesehen, mit einem langem Messer, blutverschmiert. Egal, wie cool man sonst ist, in einem solchen Augenblick weiß man erst einmal gar nichts.“

Nach der Messerattacke: Stolz auf Hamburgs mutige Helden
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Ein 50 Jahre alter Mann war bei dem Angriff des 26-Jährigen ums Leben gekommen, sieben weitere Menschen teils schwer verletzt worden. Videoaufnahmen zeigen später, wie Männer mit Stühlen ausgerüstet den Täter verfolgen. Wie viele Menschen letztendlich versuchen, den Angreifer auf seiner Flucht zu stoppen, ist unklar. Dennoch sind es diese Unerschrockenen, über die nicht nur in Hamburg viele sprechen - ihr Einsatz erscheint vielen heldenhaft, auch weil sie nicht einfach wegschauten. Ob sie es nun wie Chraiet machten, der nicht bis zur endgültigen Überwältigung des Täters dabei war, sondern vorher umkehrte, oder wie jener Mann, der den Angreifer nach eigenen Worten bis zum Eintreffen der Polizei mit festgehalten hat.

Seinen Namen will der gebürtige Deutsche tunesischer Abstammung nicht nennen, auch fotografieren und filmen lassen möchte er sich nicht. „Bis zum Ende, bis wir ihn auf dem Boden hatten“ sei er dabei gewesen. Mit Pflastersteinen hätten sie den Mann beworfen und ihm, als er gelegen habe, das Messer weggenommen. „Ich hoffe, dass die Menschen sehen, dass nicht alle Araber bösartig sind“, sagt er.

Das betont auch Chraiet: „Damit die Leute sehen, es gibt auch andere, die nicht so sind“, sagt der Mann, der seit 27 Jahren in Deutschland lebt. „Aber als Helden würde ich uns nicht bezeichnen, das ist einfach eine normale Reaktion.“ Das ganze Café sei voll gewesen, sie hätten einfach alle etwas tun müssen.

Für den Betreiber des Backshops sind die Männer, die so viel Zivilcourage bewiesen, durchaus Helden. Wer weiß, was passiert wäre, „wenn sie ihn nicht aufgehalten hätten“, sagt Ahmet Dogan. Stolz verweist er ebenfalls darauf, „dass es ausländische Mitbürger waren“, die den Angreifer - in den Vereinigten Arabischen Emiraten geboren und der Volksgruppe der Palästinenser angehörend - aufhielten. Am Samstag gibt es in seinem Laden kein anderes Thema - wie überall in der Einkaufsstraße. Der Edeka-Markt indessen bleibt geschlossen. Davor haben Barmbeker Blumen niedergelegt und Kerzen angezündet.

Bürgermeister Olaf Scholz und Innensenator Andy Grote (beide SPD) kommen ebenfalls nach Barmbek, legen Blumen nieder und sprechen mit Augenzeugen. „Es ist sehr bewegend, berührend, den Tatort zu sehen, mit denjenigen zu sprechen, die vor Ort waren, und das alles erlebt haben, geholfen haben oder hinter dem Täter hergelaufen sind“, sagt Scholz. „Das ist ein ganz schmerzhafter Moment für uns alle.“ Er sei sehr stolz auf die Hamburger, die sofort geholfen hätten.

Zwei ältere Damen bringt die Bluttat erstmals zusammen: Die beiden 75-Jährigen lernen sich kennen, als eine von ihnen eine Sonnenblume vor dem Tatort ablegt. Sie sei während des Angriffs anwesend gewesen, wolle aber nicht darüber sprechen und ihren Namen nicht nennen, sagt sie. Nun trinkt sie spontan mit Ingrid Merten, die in einem Seniorenheim in der Nähe lebt und fast jeden Tag in dem Supermarkt einkauft, gemeinsam einen Kaffee. Auch Margot Hansen (78) ist zum Edeka, in dem sie am Vortag noch Einkäufe erledigt hatte, gekommen, um der Opfer zu gedenken. Sie gehe jetzt schon mit einem mulmigen Gefühl einkaufen, sagt sie. „Das kann ja überall passieren.“

In der Nähe unterhalten sich zwei weitere Frauen. Ihre Namen wollen sie nicht nennen, am liebsten gar nicht mehr über alles sprechen. Eine von ihnen ist Verkäuferin in der Edeka-Filiale, die andere hörte in ihrer Wohnung die „Allahu Akbar-Schreie“ (Gott ist groß). „Wir haben gesehen, wie die Leute mit Stühlen hinterhergelaufen sind. Alles war unheimlich laut“, berichtet sie. Innerhalb eines Tages habe sich das Leben geändert. „Man fühlte sich immer sicher. Das Grauen war woanders, aber nie hier in Barmbek.“ Ihr Viertel sei sehr bunt, unterschiedliche Nationalitäten lebten gut zusammen. Dass der Täter ein Flüchtling ist, kommentiert sie mit: „Danke, Frau Merkel“.

Jamel Chrait will am Samstag nun die Einkaufsliste abarbeiten, die ihm seine Frau schon am Vortag über WhatsApp geschickt hatte. Über den Messenger-Dienst habe ihn rund eine halbe Stunde nach der Messerattacke auch eine besorgte Nachricht seines 18-jährigen Sohnes erreicht: „Ruf sofort an!!“. Seine Familie sei froh gewesen, dass er heil nach Hause gekommen sei. Und er selbst? Irgendwann in der Nacht habe er es geschafft, einzuschlafen. „Aber es hat lange gedauert. Die Bilder gehen einem nicht aus dem Kopf.“