Terrorjagd und Alarmstufe 4: Brüssel im Zeichen der Angst
Brüssel (dpa) - So kannte man Brüssel noch nicht. Es war ungewöhnlich still an diesem Wochenende, die Stadt wirkte wie eingefroren.
Dort, wo sonst Horden von Touristen fröhlich Fotos knipsen, standen gepanzerte Militärfahrzeuge auf dem historischen Marktplatz Grand Place - gleich gegenüber der große geschmückte Weihnachtsbaum. In der belebtesten Einkaufsstraße der Innenstadt, der Rue Neuve, patrouillierten Soldaten mit Maschinenpistolen.
Schon am Samstag zur besten Einkaufszeit waren im Zentrum die Rollläden an den Geschäften heruntergegangen. Wer Metro fahren wollte, stand vor rot-weißen Absperrbändern und Zetteln: „Auf Anordnung der Polizei geschlossen“. An diesem Bild wird sich auch zu Wochenbeginn nichts ändern: Die höchste Terrorwarnstufe für Brüssel wurde verlängert. Auch am Montag fahren keine U-Bahnen, Schulen und Universitäten bleiben geschlossen.
Es war ein bisschen gespenstisch. All das, was Menschen am Wochenende gerne zum Entspannen tun, ging plötzlich nicht mehr: Fußballspiele abgesagt, Konzerte gestrichen, das große Kino Kinepolis geschlossen, die Ballettaufführung „Schneekönigin“ des traditionsreichen Cirque Royal auf Januar verlegt. Und sogar das Wahrzeichen der Stadt, das Atomium, war zu.
Erst am Sonntag sickerte durch, warum die Behörden die höchste Terrorwarnstufe verhängt hatten, die es in diesem Ausmaß in Belgien noch nie gegeben hat. Es war der Bürgermeister der Gemeinde Schaerbeek, Bernard Clerfayt, der ausplauderte: „Wir haben erfahren, dass sich zwei Terroristen auf Brüsseler Territorium befinden und gefährliche Taten verüben könnten.“
Einer davon ist Salah Abdeslam, ein 26-Jähriger aus dem Brüsseler Stadtteil Molenbeek. Vermutlich war er an den Pariser Attentaten mit 130 Toten beteiligt und ist wieder in Brüssel. Die Aussage seines festgenommenen Freundes Hamza Attouh ließ die Fahnder wohl aufschrecken. Der hatte bei seiner Vernehmung gesagt, Salah habe Sprengstoff bei sich und sei „sehr gefährlich und ganz schön wütend“.
Es muss aber noch mehr Hinweise gegeben haben. So fanden Fahnder bei Hausdurchsuchungen am Freitagabend Waffen - und nach Spekulationen mancher Medien auch Metro-Pläne. Premier Charles Michel sprach von sehr präzisen Informationen und nannte als mögliche Anschlagziele Einkaufszentren, Einkaufsstraßen und den öffentlichen Nahverkehr.
Die meisten Menschen blieben trotz der Militärpräsenz gelassen. „Das Leben geht weiter“, sagte der Besitzer eines Zeitungskiosks, der die Maßnahmen für etwas übertrieben hielt: „Das ist doch alles nur Psychose.“ Viele Händler sorgten sich um ihre Einnahmen. Alain Berlinblau von der Vereinigung der Einzelhändler in der Innenstadt klagte: „Am Samstag zu schließen, ist für unser Geschäft eine Katastrophe.“ Am Nachmittag wurde dann den Cafés und Kneipen im Zentrum empfohlen, aus Sicherheitsgründen den Betrieb einzustellen. „Wir müssen das für die Sicherheit unserer Kunden tun“, meinte die Kellnerin Lourdes Taipe.
Doch warum steht ausgerechnet Brüssel im Visier der Terroristen? Mehrere Spuren führen in die belgische Hauptstadt. Es ist nicht nur die Jagd nach Salah Abdeslam. Er könnte Komplizen haben, die sich in Brüssel verstecken. „Es kann eine oder mehrere Terrorzellen geben, die immer noch eine Gefahr darstellen“, sagte der Terrorexperte André Jacob im belgischen Radio RTBF. „Das sind Belgier, die sich vor Ort sehr gut auskennen.“ Vielleicht planten ja auch Angehörige des getöteten Abdelhamid Abaaoud, dem mutmaßlichen Drahtzieher der Pariser Anschläge mit früherem Wohnsitz in Brüssel, Racheakte.
Belgien, bekannt für Bier, Pralinen und das Manneken Pis, gilt plötzlich als Brutstätte islamistischer Terroristen. Das hat seine Gründe. Das kleine Nachbarland von Frankreich scheint ein idealer Rückzugsraum für französisch-sprachige Terrorverdächtige zu sein. Das Land bleibt zerrissen im Sprachenstreit zwischen Flamen und Wallonen und hat ein Nebeneinander von Zuständigkeiten entlang der Polizeibezirke. Da fällt es leicht unterzutauchen.
Und der Brüsseler Stadtteil Molenbeek, aus dem einige der Attentäter von Paris stammen, hat seine eigenen Probleme. Jeder dritte dort ist außerhalb Europas geboren. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, viele Jugendliche aus Einwandererfamilien sind für Gewalt-Propaganda der Gotteskrieger empfänglich. In Molenbeek wohnt auch Mohamed Abdeslam, Bruder des Top-Terrorverdächtigen. Er ist sicher, dass Salah niemanden getötet hat und fordert ihn auf, sich zu stellen: „Wir ziehen es vor, Salah im Gefängnis zu sehen als auf dem Friedhof.“