Traumafachmann: Auf Utøya keine Alternative zur Flucht

Gladenbach (dpa) - Die jungen Menschen auf der Insel Utøya hatten nach Einschätzungen eines Trauma-Experten keine andere Wahl, als vor dem kaltblütigen Angreifer zu flüchten.

„Die Vorstellung, die Jugendlichen hätten sich auf den Täter stürzen können, um ihn zu stoppen, ist völlig unmöglich“, sagte der Traumatherapeut Georg Pieper im mittelhessischen Gladenbach der Nachrichtenagentur dpa. Der Katastrophenpsychologe mahnte, den ohnehin traumatisierten Jugendlichen mit solchen unrealistischen Vorstellungen keine Schuldgefühle einzupflanzen.

„Eine solche Szene wird am Anfang als nicht real wahrgenommen“, betonte Pieper. Dies hätten beispielsweise auch die Amokläufe an den Schulen in Erfurt und Meißen gezeigt. Pieper hat nach dem Amoklauf in Erfurt und dem ICE-Unglück von Eschede Angehörige betreut. Der norwegische Täter sei allerdings kein Amokläufer, weil er die Tat jahrelang eiskalt geplant und eine Mission verfolgt habe.

Die Menschen glaubten in solchen Situationen wie auf Utøya im ersten Moment an einen schlechten Scherz oder ein Schauspiel und realisierten die Gefahr nicht. „Wenn sie begreifen, was los ist, sind sie gelähmt vor Schock und Angst und reagieren in blanker Panik.“ In dieser Situation greife dann der entwicklungspsychologisch früh angelegte Fluchtmechanismus. „Man läuft einfach. Das geht reflexartig aus dem Rückenmark in die Extremitäten. Das Gehirn wird gar nicht mehr eingeschaltet“, betonte der Experte, der mit einer Norwegerin verheiratet ist und berufliche Kontakte zu Kollegen in dem skandinavischen Land hat.

„Norwegen ist ein sehr friedliches Land. Dort hat man - vielleicht anders als in den USA - mit sowas überhaupt nicht gerechnet.“ Dies gelte umso mehr für Utøya, eine Insel, auf die Jugendliche seit Jahrzehnte führen, um dort schöne Tage zu verleben. „Ein Polizist, die Staatsmacht, ist in Norwegen noch stärker als in Deutschland mit Schutz verbunden und nicht mit Angst.“

Der norwegische Täter stehe ähnlich wie der Flughafenattentäter in Frankfurt, der zwei US-Soldaten erschoss, für ein neues Phänomen des Internet-Zeitalters. Viele isolierte Menschen fühlten sich gar nicht allein, weil sie im Internet Kontakt zu ähnlich Denkenden pflegten und die soziale Kontrolle daher nicht mehr so stark wirke. Dies zeige sich auch bei sexuellen Extremen. „Früher hat man sich mit allen Perversitäten allein gefühlt und hatte Angst, entdeckt zu werden. Heute sucht man sich Gleichgesinnte im Internet und fühlt sich dann nicht mehr so auf dem falschen Weg.“