Viele Fragen, keine Antwort: Was ging in dem Piloten vor?
Köln/Marseille (dpa) - „Ich weiß doch nicht, was im Kopf dieses Copiloten vorgegangen ist.“ Das sagt Staatsanwalt Brice Robin in Marseille. Die Angehörigen der Opfer werden sich diese Frage vielleicht bis ans Ende ihres Lebens stellen.
Was ging in den letzten acht Minuten des Germanwings-Fluges 4U9525 im Kopf des Copiloten (27) aus Montabaur vor?
Was ging in ihm vor, als der Flugkapitän wie verrückt gegen die Tür des Cockpits hämmerte und dabei „Lass mich rein!“ rief? Was ging in ihm vor, als der Tower in Marseille immer wieder versuchte, Kontakt zu ihm aufzunehmen, ihn aufforderte, den Notruf auszulösen? Und was ging in ihm vor, als im allerletzten Moment, kurz vor dem Aufprall, die Schreie der Passagiere ertönten? Man weiß es nicht, denn in der ganzen Zeit sprach der junge Mann kein einziges Wort.
„Ich habe Probleme mit dem Begriff Selbstmord“, sagt der Staatsanwalt bei seiner Pressekonferenz. „Wenn man 150 Personen mit in den Tod reißt, ist das für mich eigentlich kein Selbstmord.“ Lufthansa-Chef Carsten Spohr sagt wenig später in Köln: „In unseren schlimmsten Alpträumen hätten wir uns nicht vorstellen können, dass sich eine solche Tragödie hier in unserem Konzern ereignen kann.“
Was kann einen Menschen dazu treiben, so etwas zu tun? Ein Motiv, das sich aufdrängt, wäre ideologische - religiöse - Verblendung. Aber darauf gibt es offenbar keine Hinweise. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) schließt einen terroristischen Hintergrund aus.
War es das Gefühl der Macht? Das Leben der Passagiere und der Besatzung liegt immer in den Händen der beiden Menschen im Cockpit. Wenn man in ein Auto steigt, ist das Unfallrisiko statistisch viel höher als bei einem Flug, aber am Steuer eines Wagens hat man das Gefühl, die Dinge selbst in der Hand zu haben. Im Flugzeug liefert man sich vollständig aus.
Dieser Kontrollverlust ist die wichtigste Ursachen für Flugangst. Wer darunter leidet, wird jetzt ein noch mulmigeres Gefühl haben. Aber auch wer damit keine Probleme hat, wird sich in nächster Zeit wohl kaum mehr so entspannt wie bisher zurücklehnen können, wenn die sonore Stimme aus dem Cockpit sagt: „Guten Morgen, hier spricht Ihr Flugkapitän!“
Es gibt noch viele andere offene Fragen. Fasste der Copilot seine Entscheidung spontan? Er konnte vorher nicht mit Sicherheit wissen, dass der Flugkapitän das Cockpit verlassen und auf die Toilette gehen würde. Die Auswertung des Stimmenrekorders hat ergeben, dass der Copilot in der ersten Phase des Fluges noch ganz normal mit seinem Kollegen geplaudert und sogar Witze gemacht hat.
Als zurückhaltender und netter Mensch wird der Co-Pilot beschrieben. Man weiß bisher nur wenig über den Mann, dessen Name nun plötzlich millionenfach im Internet eingegeben wird. Alles, was bekannt ist, deutet daraufhin, dass es ein Mensch war aus der Mitte der deutschen Gesellschaft. Um Copilot bei Germanwings werden zu können, hat er umfangreiche psychologische Tests durchlaufen. Einzige Auffälligkeit bisher: Er hat seine Ausbildung einmal unterbrochen. Aber dann hat er sie doch erfolgreich zuende geführt.
So kann man nicht ausschließen, dass letztlich alle Erklärungsversuche versagen werden. Wie hat es der Staatsanwalt noch gesagt: Man kann eben nicht in einen anderen Kopf hineinschauen.
Aber die Katastrophe des Fluges 4U9525 eröffnet nicht nur Einblicke in eine neue Dimension des Grauens. Sie zeigt auch, dass die Gesellschaft in einer Krisensituation „Reserven an Mitmenschlichkeit und Trost“ zu mobilisieren vermag, wie es der Historiker und Publizist Michael Stürmer ausdrückt. Die Notfallseelsorger, die Helfer in den Alpen, die Bewohner der Absturzregion, die Hinterbliebene aufnehmen - sie alle sind weiterhin für andere da. Auch an diesem schwarzen Tag.