Analyse Vom Sommermärchen zur nervösen Republik
Berlin (dpa) - Ein Fahnenmeer in Schwarz-Rot-Gold, „Fanmeile“ wird zum Wort des Jahres. Die Welt staunt über deutsche Lässigkeit, das ganze Land eine Party, weltoffener Patriotismus.
Man ist stolz auf Spieler wie Gerald Asamoah oder David Odonkor, die auch ghanaische Wurzeln haben. Zwölf Jahre ist diese WM, das „Sommermärchen“, her.
Heute werden die Fanmeilen-Fotos von damals genommen, im Internet verbreitet und als Bilder von einer angeblich gigantischen AfD-Demonstration am Brandenburger Tor „missbraucht“. Und Lothar Matthäus analysiert: „Özil fühlt sich im DFB-Trikot nicht wohl“.
Wie ein schwerer Ballast hat die Nationalelf das Debakel um die Fotos von Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan mit zur WM nach Russland begleitet. Aber wer die Kommentare in sozialen Medien liest, hat nicht den Eindruck, dass es primär um Kritik am Posieren mit einem umstrittenen Präsidenten geht:
Sondern um Rassismus. Für viel Aufsehen sorgte schon zuvor der AfD-Chef Alexander Gauland, der 2016 sagte, neben einem Jérôme Boateng wolle man nicht leben. Ausgrenzung statt Weltoffenheit.
Um zu verstehen, dass das, was da an Gegenbewegung entstanden ist, nicht einfach aus heiterem Himmel kommt und nicht erst mit Beginn der „Flüchtlingskrise“ eingesetzt hat, ist es sinnvoll noch einmal zurück zu gehen. In das Jahr des „Sommermärchens“. In Schnellroda macht sich ein Mann namens Götz Kubitschek seine Gedanken, 2006 schreibt er in der Zeitschrift „Sezession“: „Die Krise unserer Nation und darüber hinaus unseres Kulturkreises wird in ihrem ganzen Ausmaß gerade erst sichtbar.“
Er spricht von ersten Fieberschüben. Und ruft zur Aktion, zum Handeln auf: „Angesichts des Zustands unseres Lands ist praktisch jedes Mittel legitim, das zu Veränderungen führt. Provokation muß, wenn sie der Auftakt zu Umwälzungen sein will, als Baustein innerhalb einer Strategie ihren Platz haben.“ Sie sei das Mittel der Schwachen.
Und weiter: „Wer keine Macht hat, bereitet sich lange und gründlich vor, studiert die Reflexschemata des Medienzeitalters und erzwingt durch einen Coup öffentliche Wahrnehmung. Denn daran muß sich der Provokateur messen lassen: Was nicht in den Medien war, war nicht.“
Schwach ist die Bewegung nicht mehr. Kubitschek gilt als einer der Köpfe der „neuen Rechten“, hochintelligent, sehr belesen und sehr besorgt um seine Heimat. Er dachte damals an eine neue Partei des Widerstandes gegen Multikulturalismus und linksliberalen Mainstream, aber bitte keine zweite tumbe NPD.
Es kam die AfD. Seine Anleitungen finden sich heute überall wieder, die AfD bespielt die Klaviatur der Provokation perfekt - und viele spielen mit. Der streitbare Schweizer Journalist und rechtskonservative SVP-Politiker Roger Köppel sieht reihenweise Fehleinschätzungen bei Politik und Medien in Deutschland.
„Heute ist man Populist, wenn man etwas sagt, was dem Mainstream widerspricht.“ Man rede ständig vom Umgang mit der AfD, „das hört sich für mich an wie eine schwere Krankheit, wie Aids“. Köppel rät Politik und Medien in Berlin, mal rauszukommen aus „der Käseglocke“.
Bis in den Fußball und die Nationalmannschaft hinein spiegeln sich die rasanten politischen Veränderungsprozesse - Integrationserfolge zählen kaum noch und hier jahrzehntelang angepasst lebende Migranten fühlen sich zunehmend als Bürger zweiter Klasse, als fremder Gast.
Und, da schließt sich der Kreis zu 2006 und Kubitschek: Er und die AfD haben ein europäisches Netzwerk aufgebaut, er kennt zum Beispiel den Lega-Chef und neuen italienischen Innenminister Matteo Salvini.
Ausgerechnet auf Salvini ist Kanzlerin Angela Merkel nun angewiesen. Seit seinem Knallhart-Kurs gegen Flüchtlinge inklusive der Abweisung von Schiffen mit Flüchtlingen ist die rechte Lega zur stärksten Partei aufgestiegen. Warum sollen er und Ministerpräsident Giuseppe Conte Merkel entgegenkommen und die Rücknahme von Flüchtlingen zusichern? Will doch die deutsche AfD nichts mehr als Merkels Sturz.
Aber ohne die Zusicherung, schon in Italien registrierte Flüchtlinge aufzunehmen, sieht es für Merkel mau aus. Dann will ihr Innenminister Horst Seehofer diese Menschen nach einem Abgleich der Fingerabdrücke ab Juli an der Grenze abweisen lassen - auch wenn unklar ist, wer sie zurücknimmt. Merkel könnte ihn dann entlassen - die große Koalition wäre am Ende. Und die AfD dürfte bei einer Neuwahl stark profitieren.
Zwei Schwesterparteien, die das Christliche im Namen führen, zerlegen sich auf offener Bühne. Die CSU fürchtet vor allem eine zu starke AfD bei der bayerischen Landtagswahl im Oktober, wo die absolute Mehrheit verteidigt werden soll. Und versucht entsprechend Härte zu zeigen.
Laut eines Berichts der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ erinnerte Merkel schon in gescheiterten Jamaika-Verhandlungen daran, wie 1930 die letzte große Koalition der Weimarer Republik zerbrach, weil sich die SPD sträubte, aus Sparzwängen die Arbeitslosenversicherung um 0,25 Prozentpunkte zu kürzen. Helmut Schmidt hat wiederholt auf diesen historischen Fehler der SPD hingewiesen, es folgte ein Regieren mit Notdekreten, bis schließlich Adolf Hitler der letzte Reichskanzler der Weimarer Republik wurde. Der Rest ist bekannt.
Nun ist die Lage mit heute nicht vergleichbar und Merkel schaffte zwar nicht Jamaika, aber noch einmal eine große Koalition mit der SPD. Doch wenn es platzt, dieses Mal wegen der CSU, könnte auch eine für die Bundesrepublik eine neue Phase politischer Instabilität beginnen.
Grünen-Chef Robert Habeck meint, das Auseinanderdriften zwischen CDU und CSU sei nur der Vorbote. Der CSU gehe es nicht um eine Sach-, sondern um die Machtfrage. „Es wird eine Auseinandersetzung wie sie die Republik seit langem nicht erlebt hat“, schreibt Habeck in einem Blog. „Diese lautet: Liberale Demokratie oder Illiberale Autokratie, europäische Einigung oder nationale Abschottung. (...) Der Riss liberal/illiberal, europäisch/national geht auch durch die FDP, die Linke und - schwächer - auch durch die SPD. Nur die AfD und die Grünen sind da sortiert.“ Die AfD verschiebe das Politische Richtung autoritäre Politik. „Die Zuspitzung wird zunehmen“, glaubt Habeck.
Schon jetzt verroht die Sprache, eine Abrechnung mit angeblich viel zu langer Political Correctness. Die zwölf Jahre des Nationalsozialismus werden zum „Vogelschiss“ der Geschichte minimiert. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder prägt das Wort des „Asyltourismus“. Er wendet sich gegen eine „Belehrungsdemokratie“.
Es wirkt gerade so, dass die Industriestaaten die pessimistischste Bevölkerung haben. Viel schlechte Laune, das Ventil sind der Brexit, die Wahl Trumps, der Aufstieg der Lega in Italien. „Da ist was los in der Welt“, bringt es hanseatisch trocken Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) auf den Punkt.
Der liberale Vordenker Ralf Dahrendorf hatte schon 1997 das Aufkommen autoritärer Bewegungen als Reaktion auf die Veränderungen durch die Globalisierung prophezeit, weil in den westlichen Staaten die Mittelschicht unter Druck gerät, Einkommen stagnieren - und dadurch die Abstiegsängste rasant zunehmen.
„Mehr und mehr wird die vom Westen betriebene Globalisierung dialektisch, das heißt: Früher konnten Europäer und Nordamerikaner exportieren, was sie wollten - Waffen, Müll, Tourismus, Autos“, schreibt der „Zeit“-Journalist Bernd Ulrich. Sie konnten zugleich importieren, was sie wollten, sie hatten es im Griff und waren die großen Gewinner, auch auf Kosten anderer. „Doch seit einiger Zeit kehrt die Globalisierung unkontrolliert heim in Gestalt von: Flüchtlingen, Terrorismus und ernstzunehmender ökonomischer Konkurrenz“, so Ulrich. Das Land ist instabil, auch weil gute Gehälter nicht mehr reichen, um vernünftige Wohnungen zu bezahlen.
Die große Koalition wirkt für einige mit ihren Milliardenausgaben nach dem Gießkannenprinzip und plakativen „Mietpreisbremsen“ wie ein großer müder Reparaturbetrieb. Das Hochschaukeln des Asylkonflikts zur Regierungskrise - und wenn man so will auch die deutsche Auftaktpleite bei der Fußball-WM (mit anschließenden Panikdebatten) passen in dieses Jahr 2018, wo Gewissheiten ins Wanken geraten.
Ein US-Präsident, der auf dem Rückflug vom G7-Gipfel per Twitter mal eben so die Gipfelerklärung und irgendwie auch dieses Bündnis des Westens aufkündigt. Der einen Handelskrieg anzetteln könnte. Ein Europa, das auseinanderdriftet, während China längst das asiatische Zeitalter eingeläutet hat.
Fast schon frustriert meinte letztens die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig (SPD), in der Politik gehe es nicht allein um das Thema Asyl und Flüchtlinge. „Was ist eigentlich mit unseren anderen Themen?“, würden sie viele Bürger fragen. Denn es gibt auch Wohnraummangel, Klimawandel, Angst vor den technologischen Revolutionen, Sorge um die Rente, Eltern als schwerer Pflegefall, zunehmenden Egoismus. Immer häufiger ist auch von einer schweren Menschlichkeitskrise die Rede.
„Empört Euch!“, der berühmte Essay des früheren französischen Widerstandskämpfers Stéphane Hessel, wurde vor acht Jahren zum Bestseller. Die Jugend müsse aufstehen gegen Ungerechtigkeiten.
Es gibt viel Empörung, aber weniger in Hessels Sinn. Gefühlte und reale Wahrheiten klaffen auseinander. Deutschland, Zahlmeister Europas? Eine Regierungsantwort ergab gerade, dass allein aus den Hilfen für Griechenland 2,9 Milliarden Euro an Zinsgewinnen in den Bundeshaushalt geflossen sind. Ganz zu schweigen von den Boomjahren, die ohne ein offenes Europa für Deutschland nicht möglich wären.
Und: Zwischen Januar und März beantragten 34.400 Menschen Schutz in Deutschland - 25 Prozent weniger als im letzten Quartal 2017. Donald Trump sagt: „Die Kriminalität in Deutschland ist um 10 Prozent gestiegen (Behörden wollen diese Verbrechen nicht melden), seit Migranten akzeptiert wurden“. Aber laut Statistik ist die Zahl der Straftaten auf das niedrigste Niveau seit 25 Jahren gesunken.
Es sind im Schatten der Fußball-WM entscheidende Wochen, die das Land und Europa noch mehr verändern können. In einem der AfD nahestehenden Portal, das die „Flüchtlingskanzlerin Merkel tief verachtet, wird schon orakelt: „Seehofer stürzt Merkel - das Sommermärchen 2018?“