Vor 70 Jahren: „This is your victory“

Berlin (dpa) - Der Anblick ist gespenstisch. Wie Höhlenbewohner ziehen die Menschen in der Dunkelheit durch die Trümmerreste der einstigen Weltmetropole: In den ersten Maitagen von 1945 gleicht Berlin einer Geisterstadt.

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Unter dem blauen Frühlingshimmel rückt die Rote Armee immer weiter vor. Da hat sich Adolf Hitler längst der irdischen Gerechtigkeit entzogen, der Traum vom Endsieg war schon lange geplatzt.

Ein paar Wochen vorher hatte er noch etwas Realitätssinn durchschimmern lassen und eine Niederlage mit ins Kalkül gezogen: „Wir kapitulieren nicht, niemals. Wir können untergehen. Aber wir werden eine Welt mitnehmen“, droht er Ende Dezember 1944, als die letzte deutsche Offensive in den Ardennen scheitert. Da haben die Alliierten Nazi-Deutschland bereits in die Zange genommen.

Der Untergang von Hitlers Imperium habe sich lange abgezeichnet - nicht erst seit der Niederlage in Stalingrad 1943, sagt Herfried Münkler, Politikwissenschaftler an der Humboldt-Universität Berlin. Schon bald nach dem deutschen Einmarsch in Polen am 1. September 1939 sei das Regime seiner Gewaltlogik verfallen. „Ab Herbst 1940 kann man von einer Flucht in immer neue Kriege sprechen“, schreibt Münkler. Die NS-Elite habe auf die einzige Machtsorte zurückgegriffen, die sie besaß: Krieg.

Im Sommer 1944 lässt sich die aufziehende Götterdämmerung nicht mehr weglügen. Die Alliierten haben nach ihrer Landung in der Normandie ihre Stellung auf dem europäischen Festland gesichert. Im Osten durchbricht die Rote Armee mit der „Operation Bagration“ die 700 Kilometer lange Front der Heeresgruppe Mitte, im Süden nehmen die Alliierten Rom ein. Mit dem gescheiterten Anschlag auf Hitler in der „Wolfsschanze“ am 20. Juli verliert Hitler die Aura der Unverwundbarkeit - das Regime steht vor einer Zäsur, schreibt der britische Historiker Ian Kershaw. Langsam zieht sich die Schlinge zu.

Die Nazis reagieren mit mehr Terror. Zweifler und „Defätisten“ werden unbarmherzig verfolgt, die NSDAP besetzt mehr und mehr öffentliche Positionen. Mit dem „Volkssturm“, dem letzten militärischen Aufgebot, wird die Gesellschaft bis in den letzten Winkel militarisiert.

Die Alliierten-Forderung nach bedingungsloser Kapitulation akzeptieren die Deutschen nicht. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels schürt die Angst vor einem „Vernichtungskrieg“ gegen Deutschland. Die Ablehnung einer Kapitulation sei die Rechtfertigung für den Kampf bis zum Ende gewesen, schreibt Kershaw.

Im Winter 1944/45 unterstützt zwar nur noch eine Minderheit in der „Volksgemeinschaft“ Hitler fanatisch. Doch die Generäle kuschen, ein Aufstand bleibt aus. „Rette sich, wer kann!“, lautet die Devise. Im Januar 1945 verschanzt sich Hitler in Berlin. Er versucht mit aller Macht das Blatt zu wenden. Vor seinem Tod wird er den Führerbunker nur einmal verlassen.

In zehn Kilometern Luftlinie vom einstigen Bunker Hitlers prangt über der Eingangshalle einer Villa in Berlin-Karlshorst auf Kyrillisch: „1941 - 1945 - Ruhm dem Großen Sieg“. Den Sieg, den der goldene Schriftzug meint, hat das Haus fast unbeschadet überstanden. Im Garten des Deutsch-Russischen Museums stehen russische Panzer und ein Raketenwerfer.

In der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 setzen im einstigen Offizierskasino Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel und die anderen Spitzen der Wehrmacht ihre Unterschriften unter die Kapitulationsurkunde. Dann schweigen in Europa die Waffen. Noch heute stehen im holzgetäfelten Saal auf einem Konferenztisch die Fähnchen der Siegermächte. Die Deutschen dürfen an einem Katzentisch Platz nehmen - eine Demütigung, wie sie vier Tage vorher bereits Generaladmiral Hans­Georg von Friedeburg erlebt hat.

Friedeburg ist von Großadmiral Karl Dönitz in die Lüneburger Heide geschickt worden - zur Kapitulation vor dem britischen Feldmarschall Bernhard Montgomery. Nach Hitlers Tod hat sich Dönitz mit der neuen Reichsregierung nach Flensburg abgesetzt und hofft noch auf Verhandlungen für einen Waffenstillstand. Friedeburg bittet „Monty“ am 4. Mai, ihn und seine Truppe gefangen zu nehmen. Der Brite lässt die Deutschen zappeln, nicht einmal ein Stuhl wird den Offizieren angeboten.

Die Kapitulation auf dem Timeloberg in Wendisch Evern gilt nur für die deutschen Truppen in Norddeutschland, Dänemark, Norwegen und den nördlichen Niederlanden. Deswegen besteht US-Oberbefehlshaber Dwight D. Eisenhower auf eine Kapitulation für die gesamte Wehrmacht. Der vorletzte Akt spielt in einer Schule in Reims. In der Rue Jolicœur, dem Obersten Hauptquartier der Alliierten Expeditionsstreitkräfte, ergibt sich am 7. Mai Generaloberst Alfred Jodl.

Doch Stalin misstraut den Amerikanern. Der sowjetische Machthaber befürchtet ein doppeltes Spiel des Westens und verlangt eine Wiederholung der Zeremonie in Berlin. Auch angesichts der enormen sowjetischen Verluste und der Millionen zivilen Toten ist Stalin nicht bereit, das offizielle Kriegsende den USA zu überlassen. So besiegeln Keitel für das Oberkommando der Wehrmacht und das Heer, Friedeburg für die Kriegsmarine und Generaloberst Hans-Jürgen Stumpff für die Luftwaffe auch gegenüber der Sowjetunion die umfassende Niederlage. Amerikaner, Franzosen, Briten und Russen feiern in Karlshorst den Triumph mit Wodka und Whisky bis in die Morgenstunden.

„God bless you all“, ruft am nächsten Morgen in London der britische Premierminister Winston Churchill. „This is your victory“, sagt er zu einer jubelnden Menge in Whitehall. Am Abend des 9. Mai strahlt der Reichssender Flensburg den letzten Bericht des Oberkommandos der Wehrmacht aus. „Seit Mitternacht schweigen nun an allen Fronten die Waffen“, heißt es. „Die deutsche Wehrmacht ist am Ende einer gewaltigen Übermacht ehrenvoll unterlegen.“

Die Radio-Botschaft ist der Beginn einer neuen Legende, wie der Historiker und Publizist Volker Ullrich schreibt - die der „sauberen“ Wehrmacht, die bis zuletzt „anständig“ gekämpft habe. Erst ein halbes Jahrhundert später, mit der Wehrmachtausstellung Mitte der neunziger und Anfang der 2000er Jahre, wird auch dies als Märchen entlarvt.

Fünfzig Millionen Tote, der Massenmord an den europäischen Juden, ein Kontinent in Schutt und Asche - Hitler und die Wehrmacht hatten unendliches Leid über Europa gebracht. Es sei selten, dass ein Land fähig und auch dazu bereit ist, einen Krieg bis zu seiner totalen Zerstörung zu führen, schreibt Kershaw in seinem Standardwerk „Das Ende“. Es sei auch selten, stellt der Brite mit fast ätzender Nüchternheit fest, dass die Eliten eines Landes unfähig oder nicht bereit gewesen seien, einen Führer zu beseitigen, der sie offensichtlich ins Verderben stürzen wollte.

Für ihre Treue zahlen die Deutschen einen hohen Preis: Zwischen Juli 1944 und Mai 1945 sterben weitaus mehr Zivilisten als in den vier Kriegsjahren zuvor - und fast ebenso viele Soldaten.

Mai 2015. Dort, wo sich Adolf Hitler am 30. April vor 70 Jahren mit einem Pistolenschuss umbrachte und seine frisch vermählte Ehefrau Eva Braun eine Giftpille schluckte, spielen an einem kühlen Morgen Schüler auf Klassenfahrt an ihren Smartphones. Eine Touristengruppe beugt sich über eine Tafel zum „Mythos und Geschichtszeugnis Führerbunker“. Sie müssen ihre Fantasie wohl sehr anstrengen. Statt Hitlers Betonfestung sehen sie einen Parkplatz, dahinter Rasen und einen Plattenbau.