Vor der Entscheidung: „Was hier abgeht, ist krass“

Edinburgh (dpa) - Ob im Café oder bei einem Pint im Pub, Schottland kennt nur ein Gesprächsthema: Sagen wir „Yes“ oder „No“ zur Unabhängigkeit? Eine Momentaufnahme aus einem Land, das über sein Schicksal entscheidet.

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Alex Salmond ist ein Volksheld. Jedenfalls für die rund 250 Schotten, die den Vordenker der Nationalbewegung vor dem Rathaus seines Heimatstädtchens in Empfang nehmen. Es regnet in Strömen in Linlithgow. Auf dem Schirm, den jemand über den Politiker hält, steht: „Schottlands Zukunft in Schottlands Händen!“ Salmonds blau-weiße Krawatte passt zu den Schottland-Fahnen um ihn herum.

Es sei schön, in seiner Heimatstadt zu sein, sagt der Chef der schottischen Regionalregierung und ruft einen Wettbewerb zwischen Linlithgow und seinem neuen Zuhause im Nordosten aus: Wo gibt es am Donnerstag die meisten „Yes“-Stimmen für die Unabhängigkeit beim Referendum? Die Leute auf dem Marktplatz jubeln.

Wenn nicht gerade ein Regierungschef auftaucht, weist in Linlithgow kaum etwas auf die Schicksalsentscheidung in dieser Woche hin. Bei den Salmonds in einer braunen Doppelhaushälfte hängen „Yes“-Schilder im Fenster. In der Nachbarschaft auch ein paar, das war's. Doch der Eindruck täuscht: Schottland war vielleicht noch nie so politisiert wie in diesen Tagen.

„Die Leute sind bei dem Thema ziemlich streitlustig“, sagt Jimmy Crease, Wirt des ältesten Pubs in Linlithgow. Das Referendum sei ein Dauerthema, seine Gäste seien ziemlich genau halb und halb in „Yes“ und „No“ gespalten, erzählt Jimmy. Das deckt sich mit den Umfragen.

97 Prozent der Stimmberechtigten haben sich registrieren lassen. Alle kennen die Argumente, die Zeitungen drucken kaum andere Themen, Fernsehsender zeigen Debatten und Expertengespräche zur besten Sendezeit. Ob Teenager im Café oder Mittfünfziger am Pub-Tresen: Sie sprechen und streiten mit schottisch gerolltem R über den 18. September, über Öl, Arbeitsplätze und Demokratie. Nicht immer bleibt es friedlich. Es gibt Berichte über eingeworfene Fensterscheiben, zerkratzte Autos, vor allem online äußern sich die Menschen aggressiv.

Das „Yes“-Lager ist laut und will gesehen werden: Plakate in den Fenstern, Aufkleber am Auto, Anstecker an der Jacke. Kaledon Naddair trägt gleich fünf davon. „Wir müssen die Herrschaft von Westminster loswerden“, sagt der Experte für keltische Kultur, als halte Londons Regierung das Land besetzt wie die Engländer vor 700 Jahren.

Mit Premierminister David Cameron und dem Londoner „Establishment“ hat die Nationalbewegung ein Feindbild, das Alex Salmond mit dem Spruch „Team Westminster gegen Team Schottland“ erfolgreich fördert. Die Aussicht auf mehr Eigenständigkeit, die die drei Londoner Parteiführer Cameron, Ed Miliband (Labour) und Nick Clegg (Liberaldemokraten) in letzter Minute auf der Titelseite des schottischen „Daily Record“ platzierten, wird am Kiosk kritisch beäugt oder mit Spott bedacht.

Die „No“-Sager, die in den meisten Umfragen ein paar Prozentpunkte Vorsprung haben, sind zurückhaltender. Typischer Vertreter: Stuart Meldrum, der in der Schlosskirche von Linlithgow Touristen empfängt. „Die Senioren sind ja eher für Nein“, stellt er fest. Er auch? Stuart zögert und nickt dann. „Ist ja eigentlich egal, wenn es die Leute wissen.“ Ihn beflügelt keine positive Vision, er hat schlicht Angst: „Salmond verspricht so viel. Wer soll das denn alles bezahlen?“

Voller Leidenschaft setzt sich dagegen Dick Rodgers für die Union ein. „Geht nicht!“ appelliert er an die Schotten auf dem Schild, das er durch den Regen trägt. Der Engländer war Arzt und Pfarrer und versucht nun auf eigene Faust, Schottland in Großbritannien zu halten. Um nach Edinburgh zu kommen, hat der 67-Jährige die ganze Nacht im Reisebus verbracht. „Ich will mir nicht vorwerfen müssen, ich hätte nichts unternommen“, erklärt er.

In Schottland wissen die Leute, dass sie vor der wohl wichtigsten politischen Entscheidung seit 1707 stehen. Damals war die Gründung Großbritanniens weitgehend eine Sache zwischen Herrschern, am Donnerstag entscheidet das Volk.

Man kann finden, dass eine Mehrheit von 50,1 Prozent zu wenig wäre für so eine Entscheidung. Man muss fürchten, dass die Schotten nach dem Referendum gespalten bleiben. Doch wie ein komplettes Land weitestgehend friedlich über sein Zukunft dabattiert und entscheidet, das ist faszinierend. Oder, wie es Kelten-Experte Kaledon sagt: „Was hier abgeht, ist krass.“