Weniger Atomkraftwerke - aber wie?
Berlin (dpa) - Die Regierung gibt Rätsel auf: Sie sucht händeringend nach einer Begründung, wie sie ältere Atomkraftwerke dauerhaft vom Netz nehmen kann.
Es ist ein Pingpong-Spiel, das sich am Mittwoch die Sprecher der Bundesministerien liefern. Mal sagt die Sprecherin von Umweltminister Norbert Röttgen (CDU), dass die Kriterien für die Überprüfung der Atomkraftwerke jetzt erst einmal von der Reaktor-Sicherheitskommission (RSK) erarbeitet werden. Dann heißt es, man gehe „Schritt für Schritt“ vor. Vize-Regierungssprecher Christoph Steegmans erklärt zum FDP-Vorstoß für eine Abschaltung von acht AKW: „Der Fahrplan steht, aber die Debatte läuft.“ Die Opposition kritisiert, der Regierung fehle in der Atomfrage ein Kompass.
Ist die Entscheidung zur Abschaltung von acht AKW in der Regierung schon gefallen?
Offiziell noch nicht. Aber nach dem Luftballon, den FDP-Generalsekretär Christian Lindner steigen ließ, könnte es so kommen. Bisher gilt nur als ausgemacht, dass Isar I (Bayern), Neckarwestheim I (Baden-Württemberg) und Biblis A (Hessen) nicht mehr ans Netz sollen. Auch Brunsbüttel in Schleswig-Holstein werden kaum noch Chancen eingeräumt. Schwierig wird es, ein Abschalten der acht Meiler zu begründen. Möglich, dass der Schutz vor Flugzeugabstürzen zum Kriterium gemacht wird - das hat Röttgen bereits angedeutet. Erste Ergebnisse der RSK sollen am Donnerstag in Berlin vorgestellt werden. In dem 16-köpfigen Gremium sitzen Experten der Atomwirtschaft, Wissenschaftler und Ingenieure.
Könnten am Ende sogar mehr als acht Anlagen abgeschaltet werden?
Das ist das große Risiko. Ähnlich wie bei der „Abschaltorgie“ am 15. März, als beim Treffen von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mit den Ministerpräsidenten der AKW-Länder aus drei oder vier Atommeilern plötzlich sieben plus das ohnehin abgeschaltete AKW Krümmel wurden, könnte sich eine Eigendynamik entwickeln. Der Unions-Obmann im Umweltausschuss, Josef Göppel (CSU), geht davon aus, dass es am Ende sogar bis zu zwölf Atomkraftwerke werden könnten.
Warum besteht dieses Risiko?
Bestimmte Kriterien, etwa eine Verbunkerung von Leitungen und Notstromaggregaten und dickere Hüllen, könnten so viel kosten, dass sich auch für einige neuere Anlagen der Betrieb nicht mehr rechnet. In Koalitionskreisen heißt es, das Ganze sei sehr knifflig. So habe zwar Philippsburg I keinen Schutz gegen Flugzeugabstürze, erfülle aber laut der Internationalen Atomenergiebehörde höchste Sicherheitsstandards. „So manches alte Kraftwerk muss nicht in schlechterem Zustand sein als ein neueres“, heißt es. Die Konzerne werden ihre Juristen genau prüfen lassen, nach welchen Kriterien Meiler ausgesiebt werden. Schadensersatzforderungen werden gute Chancen eingeräumt, das käme einer Ohrfeige für Schwarz-Gelb gleich.
Auf welcher Rechtsgrundlage soll die Stilllegung geschehen?
Zwar könnte die Regierung auch versuchen, über verschärfte Nachrüstforderungen die Konzerne dazu zu verleiten, im Rahmen des jetzigen Gesetzes die gewünschten Meiler von sich aus abzuschalten. Angesichts der radikalen Kehrtwende wird das seit Januar geltende Atomgesetz aber wohl nur eine Episode bleiben, zumal Röttgen eine Verhandlungslösung mit den Konzernen klar ablehnt. Bund und Länder berufen sich bei der derzeitigen Abschaltung auf Paragraf 19 Absatz 3. Die Regierung versteht das als Antwort auf die Katastrophe von Fukushima als vorsorgende Maßnahme, um die Sicherheit noch einmal zu überprüfen. Nach dem Ende der Atom-Auszeit im Juni muss aber eine neue Regelung her, da es sich um den Notfallparagrafen des Atomgesetzes handelt und dieser nicht als Dauerlösung herhalten kann.
Ist eine solche Abschaltung dauerhaft verkraftbar?
Der Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Hans-Peter Keitel, sagt im „Stern“: „Wir müssen unglaublich aufpassen, dass in der Diskussion um die Atomenergie unser wirtschaftlicher Erfolg nicht unter die Räder kommt.“ Wenn Röttgen schneller aus der Atomenergie aussteigen wolle, müsse er auch sagen, wie Strom bezahlbar bleiben soll. Bisher gibt es aber keine Indizien, dass das Ganze massive Auswirkungen auf Preise und Versorgungssicherheit hat. 2009 standen vier AKW fast dauerhaft still, dennoch gab es Stromüberschüsse. 2010 gab es einen Überschuss von etwa 17 Terrawattstunden (TWh), das ist in etwa die Hälfte der Stromproduktion der acht nun abgeschalteten AKW. Der Ausfall wird aber besonders aus Klimasicht problematisch, da mehr Kohle- und Gaskraftwerke benötigt werden. Und im Fall der Fälle könnte Atomstrom aus Frankreich importiert werden.