Von Willkommens- zur Wutkultur Wie der Fall Susanna das Land spaltet

Berlin/Wiesbaden (dpa) - Deutschland, Juni 2018. Wer einen Eindruck von der politischen Gemütslage im Land bekommen will, der muss an diesem Wochenende auf die Straßen von Mainz blicken. Mehr als ein halbes Dutzend Demonstrationen und Trauerkundgebungen zu dem Gewaltverbrechen an der 14-jährigen Susanna gibt es.

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Die einen marschieren gegen kriminelle Flüchtlinge und illegale Einwanderung. Die anderen gegen Vorurteile und Rassismus. Die AfD lädt zur Mahnwache. Motto: „Es reicht!“ Im Jahr drei nach der Flüchtlingskrise geht ein tiefer Riss durch das Land.

Der Fall Susanna erinnert an Freiburg, wo ein Flüchtling eine junge Frau vergewaltigte und sie ertrinken ließ. Er erinnert an Kandel, wo ein Asylbewerber aus Afghanistan unter dringendem Verdacht steht, kurz nach Weihnachten die 15 Jahre alte Mia heimtückisch erstochen zu haben, bald beginnt der Prozess. Jetzt werden schnell Parallelen gezogen. Das Muster scheint gleich: Ein grausames Verbrechen. Ein totes Mädchen. Ein beschuldigter Flüchtling.

Jeder Einzelfall schürt Empörung und Wut - und die Frage, inwieweit es überhaupt noch um Einzelfälle geht. „Das ist jetzt kein Einzelfall mehr“, mahnt etwa die Ethnologin und Leiterin des Forschungszentrums Globaler Islam an der Frankfurter Goethe-Universität, Susanne Schröter. Sie spricht von einem Kulturen-Clash in Deutschland. Die Gesellschaft müsse sich jetzt Konzepte für den Umgang mit patriarchalisch geprägten und aggressiven Männern überlegen.

Aus dem Verbrechen wird ein politischer Krimi, der das Land in Atem hält - mit Schauplätzen von Mainz über Berlin bis Irak. Der Fall politisiert und polarisiert so schnell und laut wie selten zuvor. Die „Bild“-Zeitung fordert in einem Kommentar, die Bundesregierung müsse die Familie von Susanna um Verzeihung bitten.

Am Samstag meldet sich Kanzlerin Angela Merkel von Kanada aus zu Wort und spricht von einem „abscheulichen Mord“, der entschieden geahndet werden müsse. AfD-Fraktionschefin Alice Weidel wirft ihr Zynismus vor und entgegnet, die Regierung müsse „kriminelle und nicht aufenthaltsberechtigte Migranten sofort und ausnahmslos aus dem Land schaffen“.

Die emotionalen Reaktionen auf den Fall Susanna veranschaulichen, wie Deutschland sich verändert hat. Schon im Sommer der Flüchtlingskrise, als Hunderttausende Menschen ins Land kamen, wurde davor gewarnt, dass die Stimmung in der Bevölkerung kippen könnte. Mit der Kölner Silvesternacht 2015/2016 kippte sie dann wirklich. Nun der Mord an Susanna.

Dabei sind die genauen Umstände des Verbrechens noch ungeklärt. Das Mädchen ist noch nicht beerdigt, da wird Susanna zum Opfer der Flüchtlingspolitik von Angela Merkel (CDU) stilisiert. Rechtspopulisten reiben sich die Hände. Die AfD inszeniert im Bundestag eine Schweigeminute, fordert den Rücktritt der Kanzlerin. Auf Twitter ergießt sich unter dem Hashtag #Susanna blanker Hass. Der Spalt in der deutschen Gesellschaft wächst. Aus Willkommens- wird Wutkultur. Aus „Wir schaffen das“ wird „Wir gegen die“.

Die Umstände des Falls spielen den Flüchtlingsgegnern in die Hände: Ein irakischer Flüchtling, der in Deutschland vergeblich Asyl beantragt. Der mit Rechtsmitteln seine Abschiebung verhindert. Der mehrfach wegen Pöbeleien und Prügeleien mit der Polizei aneinandergerät. Dessen Name gar in Zusammenhang mit der Vergewaltigung eines elfjährigen Mädchens genannt wird. Und der dann in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit seiner ganzen Familie - allem Anschein nach problemlos - unter falschen Namen wieder in seine Heimat flüchtet.

Ali B. verlässt das Land als mutmaßlicher Mörder. Der 20-Jährige soll Susanna vergewaltigt, erdrosselt und vergraben haben. Wenige Stunden nach seiner Einreise in den Irak wird er in der Nacht zum Freitag festgenommen. Am Samstagabend bringt ihn die Bundespolizei nach Frankfurt am Main, von wo aus er zur Vernehmung nach Wiesbaden geflogen wird. Am Sonntag wird er einer Ermittlungsrichterin zur Haftprüfung vorgeführt.

Der Fall Susanna weckt auch das Bild eines Kontrollverlusts, eines überforderten Staates, der die Asylpolitik nicht mehr im Griff hat - gerade in einer Gesellschaft, die Recht und Ordnung liebt. Schon wiederholen sich Forderungen nach schärferen Gesetzen. Und der aktuelle Skandal um Missstände beim Migrationsamt Bamf scheint den Eindruck staatlichen Versagens zu unterstreichen.

Die Mutter des Mädchens erhebt indes Vorwürfe gegen die Polizei. Sie meldete Susanna bereits einen Tag nach ihrem Verschwinden als vermisst. Eine Woche später bekommt sie von einer Bekannten ihrer Tochter eine Mitteilung, dass Susannas Leiche an einem Bahngleis liege. Die Beamten starten erst dann eine öffentliche Fahndung. Die Hinweisgeberin befragen sie aber zunächst nicht, weil sie auf Kurzurlaub mit ihrer Mutter sei.

Die entscheidenden Hinweise in dem Fall gibt den Beamten ein 13-Jähriger Junge. Er nennt den Polizisten den möglichen Tatort - und Ali B. als möglichen Täter. Er ist ein Flüchtling aus Afghanistan.