Zelltransport: Irre Logistik in Mini-Räumen
Stockholm (dpa) - Wie ein Sortierzentrum der Post, nur vielfach komplexer: Jede einzelne Zelle eines Lebewesens muss ständig eine Flut von Stoffen zum richtigen Empfänger bringen. Energie muss angeliefert, wichtige Proteine verfrachtet, Müll abgestoßen werden.
Fehler im Ablauf sind Ursache verschiedener Erbkrankheiten, immunologischer Störungen und Stoffwechselleiden wie Diabetes. Randy Schekman, James Rothman und der gebürtige Deutsche Thomas Südhof haben erforscht, wie Moleküle in kleinen Paketen, sogenannten Vesikeln, zur richtigen Zeit an den richtigen Platz gelangen - und bekommen dafür jetzt den Nobelpreis für Medizin.
„Die drei Preisträger haben das Geheimnis gelöst, wie die Zellen ihr Transportsystem organisieren“, erläutert Juleen Zierath, Vorsitzende des Nobelkomitees in Stockholm. Alle drei Wissenschaftler wurden bereits mit dem Lasker-Preis ausgezeichnet: die beiden US-Forscher 2002, Südhof in diesem Jahr. „Sie haben ihre Forschung alle unabhängig voneinander begonnen“, sagt Zierath.
Ein Mensch besteht aus zehn bis hundert Billionen Zellen, die Tausende verschiedene Aufgaben haben - das Wirken einer Nierenzelle ist mit dem einer Nervenzelle, eines Spermiums oder eines Blutkörperchens kaum zu vergleichen. Zudem haben die Zellen im Schnitt nur etwa 40 Tausendstel Millimeter Durchmesser, beherbergen aber eine ganze Reihe verschiedener Bereiche: die oft als Kraftwerke bezeichneten Mitochondrien zum Beispiel, effiziente Proteinfabriken und den Zellkern mit der Erbinformation.
Es scheint unfassbar, dass der Transport von Stoffen in diesem absurd komplexen System überhaupt funktioniert - und das auch noch mit hoher Präzision. Hormone werden ausgeschüttet und lösen gezielt Reaktionen aus - Vasopressin und Oxytocin zum Beispiel die Schmetterlinge im Bauch von Verliebten. Enzyme spalten Nährstoffe in gut verwertbare Häppchen oder legen Gifte lahm. Neurotransmitter wie Dopamin und Serotonin steuern im Hirn, ob ein Mensch etwa bei bestimmten Sinneswahrnehmungen in Verzückung gerät.
Schekman machte mit Hefen als Modellorganismus verschiedene Gene aus, ohne die der Transport in Zellen im Chaos endet. „Das ist so etwas Fundamentales“, sagt Roger Goody, Präsident der Gesellschaft für Biochemie und Molekularbiologie. „Wir würden ohne diese Entdeckung überhaupt nicht verstehen, wie so komplizierte Zellen wie die menschlichen funktionieren.“
Rothman klärte an Säugetierzellen auf, dass kleine Membranbläschen unterschiedlichste Moleküle transportieren. Er zeigte, dass diese Vesikel mit der Membran ihres Zieles verschmelzen. Zudem fand er heraus, dass es spezielle Proteine auf den Vesikeln gibt, die nur zu bestimmten Gegenstücken in der Zielmembran passen - ähnlich wie die zwei Seiten eines Reißverschlusses. Nur an diesen Stellen geben die Bläschen ihre Fracht frei. In der Folge stellte sich heraus, dass einige der von Schekman aufgespürten Gene Baupläne für solche Markierungen auf den Membranen enthielten.
Südhof erforschte, wie Nervenzellen miteinander kommunizieren. Auch die Botenstoffe im Gehirn, die Neurotransmitter, werden über Vesikel weitergeleitet - also den von Schekman und Rothman entdeckten Mechanismus. Der gebürtige Deutsche identifizierte eine Reihe von Proteinen, über die der Prozess zeitlich hoch präzise abläuft. „Die Arbeiten der drei Preisträger haben sich ergänzt“, sagt Franz-Ulrich Hartl, Direktor am Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried.
Die Entdeckung sei ein langer Prozess, erklärt Jan Andersson, Mitglied des Stockholmer Nobelkomitees. „Er begann 1980 und endete irgendwo um 2002 - das waren über 20 Jahre Forschungsarbeit.“ Störungen des Membrantransports sind Symptome oder Ursachen schwerwiegender Krankheiten wie Mukoviszidose, Diabetes und Krebs.
Etliche therapeutische Ansätze basieren auf der Arbeit des Forschertrios. So gibt es Versuche, HIV-Infektionen mit Stoffen zu beherrschen, die bestimmte Membranfusionen unterbinden. Bei Diabetes ist die Steuerung der Insulin-Ausschüttung ein mögliches Ziel.
Krebs-Mediziner erforschen die zentrale Bedeutung der Zell-Zell-Kommunikation für das Tumorwachstum: Viele Tumorzellen setzen Vesikel frei, die Proteine und Erbmaterial zu anderen Zellen transportieren. Zudem wird daran gearbeitet, Nanopartikel als künstliche Vesikel einzusetzen, um hochgiftige Krebs-Wirkstoffe gezielter nur am Tumor freizusetzen. Das könnte Chemotherapien deutlich verträglicher machen.
Angesichts der immensen Bedeutung ihrer Forschungsergebnisse ist klar: Ganz überraschend ist der Nobelpreis für keinen der drei Forscher gekommen.