„Ziel 2023“ - Erdogan vor dem Sprung ins Präsidentenamt
Istanbul (dpa) - Gegner des türkischen Regierungschefs Recep Tayyip Erdogan dürften bei diesem Wahlplakat Zukunftsängste entwickeln: „Ziel 2023“ steht dort neben einem lächelnden Erdogan, der sich an diesem Sonntag zum Präsidenten wählen lassen möchte.
Darunter ist zu lesen: „Ziel 2053“ und „Ziel 2071“.
Der islamisch-konservative Politiker möchte nicht nur so lange wie möglich herrschen, er will die Türkei weit über seine Ära hinaus prägen.
Nach mehr als elf Jahren als Regierungschef wird Erdogan Umfragen zufolge vermutlich bereits im ersten Wahlgang zum Staatsoberhaupt gewählt werden. Auch wenn Erdogan 2053 (600. Jahrestag der Eroberung Konstantinopels) und 2071 (1000. Jahrestag einer wichtigen Schlacht der türkischen Seldschuken gegen das Byzantinische Reich) nicht mehr an der Macht sein wird: Dass er 2023, zum 100. Geburtstag der Republik, noch herrschen wird - das ist nicht unwahrscheinlich.
Schon jetzt ist der 60-Jährige der prägendste türkische Politiker seit Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk. Unbestritten sind die wirtschaftlichen Fortschritte, die die Türkei unter ihm gemacht hat. Hoch umstritten ist dagegen sein autoritärer Regierungsstil. Seine Anhänger ficht das nicht an, manche verehren Erdogan mit fast religiösem Eifer. So meint die regierungsnahe Zeitung „Yeni Safak“, neben dem „sterblichen“ Erdogan gebe es noch einen zweiten - eine „Symbol-Persönlichkeit“, die den Gang der Geschichte ändere.
Historische Wege möchte Erdogan - der nach den Statuten seiner Partei AKP nicht erneut für das Amt des Ministerpräsidenten hätte kandidieren dürfen - denn auch bald nach seiner Wahl ins höchste Staatsamt beschreiten. Bei seiner Nominierung Anfang Juli kündigte er eine neue Verfassung an. Einer ihrer zentralen Bestandteile dürfte die Einführung eines Präsidialsystems sein, die dem Staatsoberhaupt - und damit Erdogan - deutlich mehr Macht als bislang gibt.
Doch schon vorher will er sich nicht auf eine zeremonielle Rolle beschränken. Nach der Wahl, bei der erstmals das Volk den Präsidenten bestimmt, wird er versuchen, Gefolgsleute als seine Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten und des AKP-Chefs zu installieren. „Erdogan wird nicht der „normale“ Präsident sein, an den wir gewöhnt sind“, schrieb die regierungstreue Zeitung „Sabah“. „Er wird eine bestimmende politische Rolle spielen, weil er durch das Volk gewählt ist, und wird folglich in der Lage sein, die Regierung zu dominieren und zu bestimmen, wie die AKP geführt wird.“
Kritiker befürchten, dass Erdogan als Präsident noch autoritärer als bislang herrschen wird. Bereits nach der derzeitigen Verfassung sind Beschlüsse des Staatsoberhauptes juristisch nicht anfechtbar. So sehr ihn seine Anhänger verehren, so sehr lehnen ihn seine Gegner ab. Wie tief er das Land gespalten hat, zeigte vor wenigen Tagen eine Umfrage des US-Instituts Pew: Demnach halten 48 Prozent der Türken Erdogans Einfluss für gut. Ebenso viele halten diesen allerdings für schlecht.
Das Problem der Erdogan-Gegner: Die Opposition hat keine wirkliche Alternative zu bieten. Zwar einigten sich die beiden größten Oppositionsparteien - die sozialdemokratische CHP und die rechte MHP - trotz ideologischer Differenzen auf einen gemeinsamen Kandidaten. Der frühere Generalsekretär der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC), Ekmeleddin Ihsanoglu, blieb im Wahlkampf aber farblos. Die Unterstützung des Kompromissbewerbers durch die beiden Parteien ist bestenfalls halbherzig gewesen.
Der dritte Kandidat, der Kurde Selahattin Demirtas, ist zwar charismatisch, war als Vertreter der kleineren pro-kurdischen HDP aber von vornherein chancenlos.
Während Ekmeleddin Ihsanoglu mit dem lahmen Wortspiel „Ekmek icin Ekmeleddin“ (Für Brot Ekmeleddin) in den Wahlkampf zog, warb Erdogan auf Massenkundgebungen mit seiner Vision einer „neuen Türkei“. Punkten konnte Erdogan auch mit scharfer Israel-Kritik. Aussagen wie die, Israel übertreffe im Gaza-Krieg sogar die Gräueltaten Adolf Hitlers, sorgen im Westen für Irritationen, kommen bei vielen Türken aber gut an.
Auch seinen intellektuellen Gegenspieler Ihsanoglu - der 2003 als Gastprofessor für Islamstudien an der Universität München lehrte - ging Erdogan im Wahlkampf hart an. „Er soll drei Sprachen können“, spottete er vor Hunderttausenden Anhängern in Istanbul. „Suchen wir einen Übersetzer oder suchen wir einen Mann, der das Land führen kann?“