Analyse Zwischen Krabbelgruppe und Regierung
Berlin (dpa) - Martin Schulz kommt gut vorbereitet zu dem fast schon historischen Treffen mit Angela Merkel und Horst Seehofer. Mit dem Handy am rechten Ohr trifft der SPD-Chef am Mittwochabend gegen 18.00 Uhr im Jakob-Kaiser-Haus des Bundestags ein.
In der linken Hand ein graugrüner Ordner: „Vorbereitungsmappe. Treffen mit A. Merkel, H. Seehofer, V. Kauder, A. Nahles“, steht auf dem Aufkleber.
Gemeinsam mit Merkel, Seehofer und den Fraktionsspitzen von CDU, CSU und SPD versucht Schulz dann von 19.00 Uhr an, einen Ausweg aus der verfahrenen Regierungsbildung zu finden.
Vor dreieinhalb Wochen waren die ausführlichen Jamaika-Sondierungen zwischen CDU, CSU, FDP und Grünen geplatzt. Seit der Bundestagswahl sind 80 Tage vergangen - so lange, wie zuvor noch nie bis zu einer Regierungsbildung. Zwei Mal, nach der Wahl am 24. September und nach dem Jamaika-Aus, hatte Schulz eine Fortsetzung der große Koalition ausgeschlossen.
Doch dann nahm Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seinen Parteifreund Schulz sowie Merkel und Seehofer ins Gebet. Um eine Neuwahl zu vermeiden, verdonnerte er die drei, trotz aller roter Linien nach Wegen hin zu einer neuen Regierung zu suchen.
Jetzt also doch die Sechser-Runde in den Räumen von Unionsfraktionschef Volker Kauder. Beide Seiten kommen zu getrennten Vorbesprechungen zusammen - in Räumlichkeiten, die direkt übereinander liegen. Ein Foto zeigt, wie sich Merkel im fünften Stock mit Kauder und den anderen Unions-Granden bespricht - im Stockwerk darunter, leicht nach rechts versetzt, sitzen Schulz und Fraktionschefin Andrea Nahles bei Kaffee, Wasser und O-Saft zusammen. Fröhlich sehen alle nicht aus.
Merkel, Schulz und Seehofer haben ihre Mitarbeiter zur Geheimhaltung verdonnert. Nicht einmal die Zeit, geschweige denn der Ort des Treffens sollen vorab bekannt werden. Union und SPD wollen unbedingt die Fehler der Jamaika-Gespräche vermeiden, als aus der teils mehr als 50 Verhandler starken Sondierungsrunde regelmäßig getwittert oder per Kurznachricht Zwischenergebnisse durchgestochen wurden. Das hatte die Verhandlungen oft gelinde gesagt nicht gerade einfacher gemacht.
Als dann einige Zeit vor Beginn des Sechser-Treffens Küchenwagen mit weißen Suppenschüsseln voller Wiener Würstchen, belegten Brötchen und mit einer Batterie Thermoskannen aus dem Aufzug in den Bürotrakt von Kauder gerollt werden, ist klar: Union und SPD haben keinen neutralen Ort für ihre ersten Gespräche gewählt. Schulz und Nahles kommen in die Räumlichkeiten der CDU.
Als das Treffen beginnt, sitzen sich keine Unbekannten gegenüber. Beide Seiten kennen sich bestens. Aber die Wertschätzung ist unterschiedlich verteilt. Merkel schätzt Nahles und Nahles Merkel. Die Kanzlerin und die heutige Fraktionschefin haben in der vergangenen GroKo, in der Nahles Arbeitsministerin war, Vertrauen aufgebaut.
Auch Merkel und Schulz kennen sich schon lange - in der Zeit des SPD-Mannes als EU-Parlamentspräsident sollen sie sich gut verstanden haben. Doch im Wahlkampf und noch bis zuletzt ging Schulz die Kanzlerin dann hart an, gab ihr eine Mitschuld am AfD-Aufstieg und nannte ihren Politikstil einen „Anschlag auf die Demokratie“.
Die Stimmung zwischen Union und Sozialdemokraten ist angespannt, auch weil der Kurs der SPD unklar ist. Seehofer vergleicht die SPD kurz vor dem Treffen mit einer „Krabbelgruppe“ - wegen des jüngsten Vorschlags der SPD-Linken, eine Art offene Koalitionsehe einzugehen, wo beide Seiten eigene Lieblingsprojekte auch mit anderen Parteien gegen die Koalitionsräson durchsetzen dürfen. „Man kann nicht zum Teil regieren und zum anderen Teil opponieren“, moniert Seehofer. In der SPD sorgen die Sätze für Ärger.
Die Union weiß, was sie will: eine große Koalition für vier Jahre. Sie wäre für Merkel eine Art politische Lebensversicherung, um womöglich anders als Helmut Kohl einen selbstbestimmten Abgang hinzubekommen. Bei einer Minderheitsregierung müsste sie ständig im Bundestag um Mehrheiten ringen. Bekommt sie diese nicht, wären wohl eine Vertrauensfrage im Bundestag und dann eine Neuwahl die Folge.
Schulz und Nahles brauchen aus dem Treffen mit Merkel, Seehofer und Co. ein paar Hinweise, was möglich sein kann. Das wissen sie auch in der Union. Man werde zwar wohl noch nicht konkret verhandeln, aber vielleicht doch schon Grundsätzliches ansprechen, heißt es da schon vor dem Gespräch.
Schließlich könne Schulz am Freitag nicht mit leeren Händen in seinem Parteivorstand auftauchen. Zumindest die Grundatmosphäre zwischen den möglichen Partnern müsse stimmen. Vielleicht könnten auch schon erste Leitplanken für einen gemeinsamen Weg in die Zukunft identifiziert werden.
Als das Treffen dann gegen 21.45 Uhr nach gut zweieinhalb Stunden vorbei ist, teilen beide Seiten in dürren Worten gleichlautend mit, dass man zumindest einen kleinen Schritt weitergekommen sei. Die Partei- und Fraktionschefs hätten „ein offenes und vertrauensvolles Gespräch geführt“. Immerhin: Vertrauensvoll.
Dann folgt, was eigentlich ohnehin klar ist: Die Vertreter von CDU und CSU hätten deutlich gemacht, „dass sie gemeinsam mit der SPD Sondierungen zur Bildung einer stabilen Regierung aufnehmen wollen“ - im Klartext: eine große Koalition. Die SPD werde darüber am Freitag in ihren Gremien beraten und entscheiden, heißt es weiter.
Dass sich die Union öffentlich erneut derart festlegt und in der gemeinsamen Erklärung die für die SPD wichtige Formulierung „ergebnisoffene Gespräche“ nicht vorkommt, dürfte den Druck auf die Sozialdemokraten erheblich erhöhen.
Vielleicht hat es beiden Seiten bei der Suche nach neuem Vertrauen ja ein wenig geholfen, dass Schulz und Nahles auf ihrem Weg zur Union eine bewährte Spezialverbindung zwischen den Stockwerken von CDU und SPD genommen hatten.
Die SPD-Spitze kam nicht über den Aufzug zur Unionsführung und auch nicht über den gut einsehbaren Lichthof des Gebäudes. Sie nutzte eine legendäre zweite, im Innern des Gebäudetraktes liegende Treppe. Diese hatte Kauder immer genommen, wenn er mit seinem vor fast genau fünf Jahren gestorbenen SPD-Freund Peter Struck schnell mal etwas absprechen wollte. Beide gelten als die Garanten der Einigkeit in Merkels erster großer Koalition.