Zwischen Wunsch und Wirklichkeit: Merkel und die EU-Politik

Brüssel (dpa) - Statt in der Flüchtlingspolitik Fortschritte zu machen, muss Angela Merkel in Brüssel erst einmal Schaden durch Rückschritte begrenzen.

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Die Anschläge in der Türkei, das Ausscheren Österreichs, der Widerstand osteuropäischer Länder - all das verhindert Merkels innenpolitisch so dringend benötiges Signal zur Reduzierung der Flüchtlingszahl. Über eine Kanzlerin unter Zeitdruck und ein aufreibendes Schneckentempo.

Was wollte Merkel erreichen?

Sie hatte vorher versucht, die Erwartungen herunterzuschrauben. Ihren Wunsch nach Flüchtlingskontingenten für alle EU-Staaten kassierte sie für diesen Gipfel erst einmal ein, weil es nicht den Hauch einer Chance dafür gab. Aber wenigstens Solidarität einer kleinen Koalition der Willigen hatte sie erhofft. Und, dass die EU sich zu ihrem Ende November beschlossenen Aktionsplan mit der Türkei bekennt. Die Türkei ist für Merkel der Schlüssel zur Reduzierung der Flüchtlingszahl.

Was hat sie bekommen?

Erst einmal Rückschläge. Das befreundete Österreich verkündete kurz vor dem Gipfel eine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen und erklärt die Koalition der Willigen für tot; auch Frankreich geht vor dem Treffen auf Distanz zu Deutschland. Die in Brüssel geplanten Gespräche des türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu mit dem Club der Willigen werden nach dem Anschlag in Ankara abgesagt.

Hat die Kanzlerin gar nichts erreicht?

Doch. Es wird einen neuen Sondergipfel des gesamten Rates mit der Türkei Anfang März geben. Das ist mehr als eine kleine Koalition der Willigen und eine Chance für Merkel, vor den drei Landtagswahlen am 13. März ein Signal zur Reduzierung der Flüchtlingszahlen zu setzen. Außerdem bekräftigen die Staats- und Regierungschefs den im November beschlossenen EU-Türkei-Aktionsplan als gemeinsame Priorität. Das ist angesichts der drohenden Spaltung in Willige und Unwillige ein Gewinn, wenn auch in den Augen vieler Bürger ein beschämend kleiner.

Gibt es heikle Punkte?

In CDU-Kreisen wird ein Passus in der Abschlusserklärung postwendend bereits als sensibel. Dort heißt es: „Wir müssen wieder dahin zurückkehren, dass alle Mitglieder des Schengen-Raums den Schengener Grenzkodex vollständig anwenden und Drittstaatsangehörigen, die die Einreisevoraussetzungen nicht erfüllen oder keinen Asylantrag gestellt haben (...) an den Außengrenzen die Einreise verweigern.“ Damit müsste das Dublin-Verfahren wieder strikt umgesetzt und Flüchtlinge in das Land zurückgeschickt werden, wo sie zuerst EU- Boden betraten. Wenn Deutschland das umsetzt, würden andere EU-Partner darunter leiden. Es ist aber genau das, was Merkels Kritiker wollen: Die Zahlen würden reduziert.

Was will die Kanzlerin überhaupt?

Seit ihrer Grenzöffnung für syrische Flüchtlinge im September verfolgt sie diesen Plan: Keine Obergrenze in Deutschland, dafür Kontingente für alle EU-Mitgliedsländer. „Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Europa nicht nur punktuelle Umverteilungen, sondern vielmehr ein dauerhaftes Verfahren für eine faire Verteilung von Flüchtlingen auf die Mitgliedstaaten braucht“, sagte sie am 24. September 2015. Ferner pocht sie auf die Bekämpfung der Fluchtursachen und den Schutz der EU-Außengrenzen.

Was wurde bisher beschlossen?

Innerhalb von zwei Jahren sollen Griechenland und Italien 160 000 Flüchtlinge abgenommen werden. Ferner sollen mit dem EU-Türkei- Aktionsplan die EU-Außengrenze geschützt und illegale Migration gestoppt werden. Dafür soll Ankara drei Milliarden Euro für die Versorgung der von ihr selbst aufgenommenen 2,6 Millionen syrischen Flüchtlinge bekommen. Ein unter deutscher Führung stehender Nato- Marineverband soll in der Ägäis Aufklärungsergebnisse zur Bekämpfung von Schleusern liefern und Flüchtlinge aus Seenot retten - diese aber in die Türkei zurückbringen. Die internationale Gemeinschaft will rund 11 Milliarden US-Dollar zur Bekämpfung von Fluchtursachen geben.

Kann die EU Erfolge vorweisen?

Kaum. Der EU-Türkei-Plan kommt bisher nicht in Gang. Nach Angaben von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz hat die EU auch Syrien und dem Libanon nicht einmal die Hälfte zugesagter Mittel gezahlt. Und die lange beschlossene Umverteilung von 160 000 Flüchtlingen funktioniert nicht: Bisher nahmen andere Staaten nicht einmal 600 von ihnen auf. Osteuropäische Staaten schotten sich ab, bauen lieber Zäune.

Welche Risiken gibt es noch?

Solange der Krieg in Syrien tobt, werden die Menschen weiter fliehen. Die irakische Regierung will die Terrormiliz Islamischer Staat bezwingen und plant etwa eine Offensive in Mossul. Auch das kann eine neue Fluchtbewegung auslösen. Dürre und Hunger werden immer mehr Menschen aus afrikanischen Staaten vertreiben. Und der Kurdenkonflikt in der Türkei droht zu eskalieren.