Bedeutung Europas für Industrie schwindet
Hannover (dpa) - Deutschlands Industrie sieht ihre Zukunft mehr denn je auf Märkten fern der Heimat.
Die Wachstumspläne für Übersee und die schwindende Bedeutung Europas ziehen sich wie ein roter Faden durch die Bilanzen der größeren Unternehmen auf der Hannover Messe.
Mit Blick auf die wirtschaftlichen Trends der Branche wird damit auf der weltgrößten Industriemesse einmal mehr klar: Der Wohlstand daheim hängt immer stärker auch an der Konjunktur in der Ferne.
Länder wie Asien, Amerika, Brasilien und Russland entscheiden längst nicht mehr nur als Absatzrampe für den Export über Wohl und Wehe der deutschen Industrie. Sie dominieren die Strategie ganzer Firmen hierzulande.
Die Technologietochter des Autozulieferers Continental zum Beispiel erlebt bei den Absatzmärkten eine massive Verschiebung in Richtung Übersee. Hatte Europa 2011 mit 73 Prozent vom Umsatz noch fast Dreiviertel ausgemacht, waren es mit 66 Prozent vergangenes Jahr nur noch zwei Drittel. Ohne die Stützen in der Ferne wäre die solide Bilanz des Conti-Ablegers Makulatur.
Denn das bereinigte Umsatzplus von knapp 2 Prozent für 2012 lebte von 23 Prozent Wachstum in Asien und den 32 Prozent Zuwachs in Amerika. Mit zusammen 1,2 Milliarden Euro Erlös bilden die beiden Regionen heute ein Drittel des Kuchens.
Für die Jobs allerdings bedeutet das Tempo in Übersee auch, dass sich die Gewichte verschieben. Während die Mitarbeiterzahl zum Ende des Jahres in Deutschland um gut 400 Stellen auf 11 218 sank, zog sie global in der gesamten Sparte um fast 1000 Stellen auf 28 210 an. Die künftigen Jobmotoren sind vorrangig Serbien, Russland und die USA.
Ähnlich ist es beim Automobil- und Industriezulieferer Schaeffler: Er glaubt absehbar fast jeden dritten Euro auf den boomenden Märkten Asien/Pazifik umzusetzen. Schon 2015 seien bis zu 30 Prozent ein realistischer Wert. 2012 entfiel erst ein knappes Viertel (23,1 Prozent) auf die Wachstumsregion in Fernost. Während Nordamerika in der Prognose für 2015 mit 15 Prozent Anteil verharrt, würde Europa merklich einbüßen und um womöglich 7 Punkte auf 50 Prozent fallen.
Entsprechend läuft die globale Planung des Conti-Großaktionärs: Von den derzeit 17 Fabrikneubauten und -erweiterungen bei Schaeffler spiele sich der Löwenanteil in Asien ab, erklärte das Unternehmen. 2015 solle zu 70 Prozent lokal produziert werden. Experten verweisen bei diesen Rechnungen auf die große Bedeutung der Forschung und Entwicklung daheim in den Hauptquartieren. Doch fraglich ist, wie schnell auch dieses zentrale Prinzip zunehmend dezentraler wird.
Europa scheint für die Industrie in großen Teilen einfach schon gebaut - zumindest verglichen mit der Dynamik und dem Nachholbedarf anderswo. Die Bosch-Tochter für Antriebs- und Steuerungstechnologien, Bosch Rexroth, hofft derzeit auf die USA, aber auch auf Südamerika - dort zog das Geschäft 2012 um 20 Prozent an.
In den USA treibe eine gestiegene Sensibilisierung für den Klimawandel das Geschäft, und in Lateinamerika stünden - wie auch in Russland - enorme Investitionen in die Infrastruktur an. Auch China ziehe nach einer Pause wieder an.
Der Industriespitzenverband BDI hatte am Montag zum ersten Messetag betont, dass es vor allem Impulse aus den USA und China sein dürften, die die deutsche Wirtschaft in eine vielversprechendere zweite Jahreshälfte ziehen. „Wir sehen gute Chancen, dass die deutsche Wirtschaft im Laufe des Jahres deutlich an Fahrt gewinnt“, sagte BDI-Präsident Ulrich Grillo. Er dachte dabei an ferne Märkte.