Deutsche Wirtschaft entsetzt über Brexit

Berlin/Frankfurt (dpa) - Katerstimmung in den Chefetagen nach dem Brexit: Die deutsche Wirtschaft ist fassungslos über das Votum der Briten für einen Austritt aus der Europäischen Union. Die Industrie fürchtet harte und unmittelbare Folgen für den Handel mit der Insel.

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Dort arbeiten fast 400 000 Beschäftigte in Niederlassungen deutscher Firmen. „Der Brexit ist für die deutsche Wirtschaft ein Schlag ins Kontor“, sagte der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Eric Schweitzer, am Freitagmorgen.

Auch die Exportwirtschaft sprach von einer Katastrophe für Großbritannien, Europa und Deutschland. „Es ist bestürzend, dass die älteste Demokratie der Welt uns den Rücken kehrt“, meinte der Chef des Außenhandelsverbandes BGA, Anton Börner. „Die Briten werden die Ersten sein, die unter den wirtschaftlichen Folgen leiden werden.“

Nach Einschätzung der Industrie wird der Brexit sich direkt negativ auf die Wirtschaftsbeziehungen mit dem Vereinigten Königreich auswirken. „Wir erwarten in den kommenden Monaten einen deutlichen Rückgang des Geschäfts mit den Briten. Neue deutsche Direktinvestitionen auf der Insel sind kaum zu erwarten“, sagte der Hauptgeschäftsführer des Industrieverbandes BDI, Markus Kerber. Die Beschäftigten in deutschen Niederlassungen stünden vor unsicheren Zeiten. Besonders betroffen vom Brexit seien die Branchen Auto, Energie, Telekom, Elektronik, Metall, Einzelhandel und Finanzen.

Kurzfristig ist laut DIHK-Chef Schweitzer zu befürchten, dass der Absatz deutscher Produkte in Großbritannien schwächer wird. Sicherlich sei in den nächsten Wochen mit einer weiteren Abwertung des Pfunds zu rechnen. Insgesamt werde der deutsch-britische Handel schwieriger. „Großbritannien muss Handelsverträge weltweit, aber auch mit der EU komplett neu aufsetzen“, sagte er.

Die EU-Verträge sehen einen Zeitraum von zwei Jahren vor, um die künftigen Handelsbeziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich zu regeln. Führende Chefvolkswirte von Banken und Versicherungen sowie der Präsident des Wirtschaftsforschungsinstituts Ifo, Clemens Fuest, mahnte an, dass Wirtschaft und Märkte rasch Klarheit bräuchten: „Die Politik muss jetzt alles tun, um den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen.“

Der Direktor des arbeitgebernahen IW-Instituts, Michael Hüther, glaubt nicht, dass die Eurokrise erneut aufbricht. Die Reformen in den Krisenstaaten seien weit genug fortgeschritten, das Finanzsystem habe Risikopuffer aufgebaut und der Austritt Großbritanniens komme „letztlich ohne Überraschungsmoment daher“. Die EU müsse dafür sorgen, dass der der Brexit kein Präzedenzfall für andere Länder werde. „Es darf keine neue Ära des Rosinenpickens anbrechen.“

Die deutschen Banken sind zuversichtlich, dass die Aktienmärkte sich rasch von den Schockwellen des Referendums erholen. „Die Lage an den Finanzmärkten dürfte sich nach dem ersten Schock rasch beruhigen“, sagte der Präsident des Bankenverbandes, Hans-Walter Peters, der dpa. Die Notenbanken hätten zudem alle erforderlichen Vorkehrungen getroffen, um nach dem „schwarzen Freitag“ eingreifen zu können.

Peters geht davon aus, dass die Finanzplätze Kontinentaleuropas wie Frankfurt mittelfristig nach dem Brexit an Bedeutung gewinnen: „Auch wenn Frankfurt zu Lasten der City Marktanteile gewinnen würde, so wäre mir ein politisch geeintes Europa mit dem Vereinigten Königreich weitaus lieber.“ Sparkassen-Präsident Georg Fahrenschon meinte: „Wir brauchen jetzt eine ehrliche Revitalisierung der gemeinsamen europäischen Idee.“

Dekabank-Chefvolkswirt Ulrich Kater vergleicht den Brexit mit dem Fall des Eisernen Vorhangs vor fast dreißig Jahren. Es sei ein „politisches Beben gleicher Größenordnung“. Er rechnet mit einer Konjunkturdelle in Euroland und einer Rezession in Großbritannien. Schließlich liege der EU-Anteil des britischen Außenhandels bei 45 Prozent.