Kritik an EZB-Chef Lambert T. Koch: „Mario Draghi missbraucht seine Macht“

Lambert T. Koch, Rektor der Universität Wuppertal, kommentiert die „Draghische Umverteilung“ sehr kritisch. Der EZB-Chef ist seit fünf Jahren im Amt.

Foto: dpa

Wuppertal. Fragt man die Menschen auf der Straße, wer ihrer Meinung nach wirklich Macht habe in Europa, nennen sie Angela Merkel oder François Hollande. Vielleicht auch Dieter Zetsche von Daimler oder einen anderen Konzernchef. Doch auf den derzeit vielleicht Mächtigsten — zumindest wenn man die Auswirkungen seiner Entscheidungen auf die Lebensbedingungen der Menschen hierzulande zugrunde legt — kommen nur wenige: Mario Draghi.

In dieser Woche jährt sich sein Amtsantritt zum fünften Mal. Am 1. November 2011 löste der frühere Wirtschaftsprofessor und Goldman Sachs-Manager seinen Vorgänger Jean-Claude Trichet als Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) ab. Seine Zwischenbilanz, da ist man sich in Deutschland über ideologische Lager hinweg beunruhigend einig, fällt alles andere als schmeichelhaft aus.

Mit Jubilar Draghi an der Spitze hat die EZB in den vergangenen Jahren eine Geldpolitik betrieben, deren Verteilungswirkung allein in Deutschland inzwischen historische Dimensionen annimmt. Möglicherweise wird man später sogar einmal sagen, dass die anhaltende Negativzinspolitik rückblickend die massivste Umverteilung längerfristiger Vermögenspositionen seit dem Zweiten Weltkrieg bewirkt hat. Verlierer dieser Politik sind vor allem die Ärmeren und kommende Generationen. Der Grund: Sparen wird bei fehlender Verzinsung unattraktiv, während angesichts zunehmend verzerrter Risikosignale das Schuldenmachen lockt.

Neben der Zunahme privater Verschuldung rückt so auch das Schreckgespenst sich ausbreitender Altersarmut näher; Lebensversicherungen und andere Formen der Rücklage lohnen einfach nicht mehr. Letzteres betrifft im Übrigen auch Eltern, die darüber nachdenken, wie sie frühzeitig Vorsorge für die Ausbildung ihrer Kinder treffen sollen. Mindestens genauso besorgniserregend ist die Schieflage, in die immer mehr gemeinnützige Stiftungen, wie etwa die unzähligen in den letzten Jahren entstandenen Bürgerstiftungen, geraten. Das Nachsehen haben erneut wir alle, wenn die Förderung für soziale und kulturelle Projekte bzw. generell für ehrenamtliches Engagement in unserem Land massiv zurückgeht.

Doch all das scheint den EZB-Chef wenig zu kümmern, verfolgt man seine Auftritte in der Öffentlichkeit. Erst kürzlich verstieg er sich zu der Behauptung, die Deutschen würden als Kreditnehmer von der Zinspolitik der Zentralbank dann profitieren, wenn sie in Immobilien investierten. Dass die Immobilienpreisinflation hierzulande mittlerweile im Schnitt bei über sechs Prozent liegt, scheint Draghi geflissentlich zu übersehen. Zumindest verschweigt er, dass der Immobilienkäufer beim Kaufpreis locker wieder drauflegt, was er bei der Finanzierung spart.

Wirkliche Profiteure der Geldschwemme waren über längere Zeit vor allem die Akteure an den Aktienmärkten, wobei selbst hier allmählich die Luft raus zu sein scheint. So bleiben als Gewinner hauptsächlich noch die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden. Deren Einsparungen belaufen sich durch den reduzierten Schuldendienst auf hohe Milliardenbeträge; und auch die Steuereinnahmen sprudeln angesichts des immer noch überdurchschnittlich attraktiven Investitionsklimas. Doch hier entsprechen, und das ist die Krux, die Mehreinnahmen der einen den Wohlfahrtsverlusten der anderen. Deshalb sind politische Programme mehr als überfällig, die nachhaltigen volkswirtschaftlichen Schaden — etwa im Bereich der Alterssicherung und der Bildungsvorsorge — eindämmen helfen. Wichtig ist es, den politisch Verantwortlichen klarzumachen, dass es hier nicht um die Verteilung optionaler Wohltaten, sondern um die bitter nötige Korrektur geldpolitischen Versagens geht. Die derzeit etwas entspanntere Situation vieler öffentlicher Haushalte ist weniger das Resultat erfolgreicher Realpolitik als viel mehr verfehlter Geldpolitik.

Wer nun fragt, warum die Europäer dem EZB-Präsidenten nicht endlich Einhalt gebieten, der übersieht die schwerwiegende Schieflage der europäischen Geldverfassung. Tatsächlich nämlich gibt es eine Mehrheit, die keinerlei Interesse an einer Reform des Systems hat. Hierbei handelt es sich um genau die Interessenkoalitionen, vor allem im südlichen Europa, die von der Ohnmacht Deutschlands profitieren. Letztere resultiert besonders daraus, dass Deutschland im EZB-Rat genauso nur eine Stimme hat wie etwa die Kleinststaaten Zypern oder Malta. Die Unangemessenheit dieser Situation liegt auf der Hand, trägt unser Land als größte Volkswirtschaft Europas doch für geldpolitische Fehler die weitaus größte Haftungslast.

Lange schon wird daher gefordert, dass Stimmrecht und Haftungsanteile in Relation zueinanderstehen müssten. Würde nach Kapitaleinlagen und Wirtschaftskraft differenziert, hätte Deutschland in der Vergangenheit viele der Tabubrüche im Zusammenhang mit der Euro-Krise verhindern können. EU-Nehmerländer hätten Geberländer nicht in einem solchen Ausmaß über den Tisch ziehen können.

Aber Klagen hilft nicht. Bis auf Weiteres wird es dabei bleiben, dass eine einzelne, nicht wirklich demokratisch legitimierte Institution mit Mario Draghi an der Spitze ihre ungeheure Macht beliebig missbrauchen kann. Die EZB, institutionell unabhängig, wie sie nun mal ist, wird weiter Staats- und Unternehmensanleihen kaufen und von den Geschäftsbanken Strafzinsen auf Einlagen verlangen, wann und wie es ihr beliebt. Legitimieren wird sie dies wie gehabt damit, sich letztlich im Allgemeinen doch nur auf die Stabilität des Geldes und im Besonderen auf die Rettung des Euro zu konzentrieren. Nicht allen wird angesichts dieser „draghischen“ Entwicklungen beim Dienstjubiläum des europäischen Zentralbankchefs zum Feiern zu Mute sein.