Reportage RWE-Kraftwerk Frimmersdorf - Der langsame Abschied von der Braunkohle
Das RWE-Kraftwerk Frimmersdorf ist seit Oktober abgeschaltet und wird nur noch im Notfall hochgefahren. Ein Besuch.
Grevenbroich. Schon während des Herannahens im Auto, beim Passieren der Schranke, wird klar: Hier ist etwas anders. Anders, als es gut 50 Jahre lang war. Hier dampft nichts mehr. Das Braunkohle-Kraftwerk Frimmersdorf wird in die Sicherheitsbereitschaft überführt. Die Kessel der beiden Kraftwerksblöcke sind seit fast einem Monat aus.
Viel erinnert an die vergangenen Tage, als das Geschäft mit der Kohle noch ein besseres war, als der Protest der Gegner noch nicht bis an die Werkstore herangedrungen war, als noch nicht im Bewusstsein der Allgemeinheit angekommen war, dass das Kraftwerk Frimmersdorf — eines der größten in Deutschland — auch einer der größten CO2-Emitenten in Europa ist.
Seit der Inbetriebnahme der beiden Kraftwerksblöcke in Frimmersdorf, 1966 und 1970, hat sich optisch wenig verändert. „Schätze, dass 80 Prozent hier drin noch so sind wie damals“, sagt Fritjof Wirling. Abgesehen von Modernisierungsmaßnahmen für den Umweltschutz seien größtenteils nur einzelne Teile ausgetauscht worden. Fritjof Wirling ist der Leiter des Projekts Sicherheitsbereitschaft beim Energiekonzern RWE. Er wickelt das Werk ab, in dem er seit 2003 die Leitung der Auftragsleitstelle innehatte. Jetzt müssen alle beweglichen Teile beweglich, Leitungen rostfrei gehalten werden. Bis Ende des Jahres soll der Prozess dauern, dann ist Frimmersdorf vollständig im Dornröschenschlaf.
Bis so ein Riese konserviert ist, müssen unzählige Arbeitsschritte getan werden. Unzählig ist natürlich falsch: Sie wurden gezählt. 2200 Einzelmaßnahmen sind es, um genau zu sein. „Die Kesselrohre zum Beispiel müssen wir mit Stickstoff konservieren“, sagt Fritjof Wirling. Andere Bereiche werden mit Wasser oder Trockenluft konserviert.
Beim Betreten des Blocks P — Block Paula, wie die Mitarbeiter hier sagen — fällt der Blick zuerst auf den riesigen Kessel. Zumindest auf seinen unteren Teil, der obere wird von einem Zwischengeschoss verdeckt. Auf dieses geht es über eine Treppe. Wirling leuchtet durch eine Luke mit seiner Taschenlampe in das Innere des Kessels. Im Lichtstrahl schwirren die Staubkörner. Der Boden, die Rampe zur Luke, alles ist mit einer dicken Schicht aus Asche belegt. Es riecht noch leicht nach Verbrennungsprozess. Wo der Lichtkegel der Taschenlampe hinfällt, lässt sich das symmetrische Muster der waagerecht und dicht an dicht verlaufenden Rohre erkennen, die die Kesselwände verkleiden. Die Leere des 45 Meter hohen Kessels ist gedanklich nur schwer mit dem Flammenmeer zu füllen, das bis vor einem Monat hier noch tobte. In Betrieb erhitzt der bei 1000 Grad verbrennende Kohlenstaub im Innenraum des Kessels das Wasser in den Rohrleitungen auf 520 Grad, welches die Turbinen und damit den Generator antreibt. So wird Strom erzeugt.
Für gewöhnlich macht das einen Höllenlärm. Jetzt ist es ruhig. Nur ab und zu ist das Rattern einer Bohrmaschine zu hören. Eine neue Heizungsanlage muss eingebaut werden, damit es im Winter keinen Frost gibt. Früher war es im Kraftwerk immer warm genug. Mehrere Instandhaltungsarbeiter klettern dafür auf Gerüsten herum. Licht gibt es nur wenig, Baulampen helfen aus. Ein Kraftwerk ist nun mal ein dunkler Ort. Und auf alles legt sich schon nach kurzer Zeit ein dünner Film Aschestaub.
Seit der Abschaltung der Kraftwerksblöcke P und Q zum 1. Oktober — eine Konsequenz aus dem von der rot-grünen Landesregierung verabschiedeten NRW-Klimaschutzgesetz — herrscht hier jedoch mehr Betrieb als zuvor: Der Übergang in die Sicherheitsbereitschaft erfordert fast 50 Mitarbeiter in der Tagschicht, zu Betriebszeiten waren es deutlich weniger. „Das ist nahezu buntes Treiben hier“, sagt Tilmann Bechthold. Er ist der Leiter der RWE-Kraftwerke Frimmersdorf und Neurath. Auch in seinem Büro sieht es so aus, als habe sich die Zeit hier vor Jahrzehnten dem Voranschreiten verweigert. Teppichboden und viel dunkles Holz.
Die Stimmung der Belegschaft im Kraftwerk sei gedrückt, sagt Bechthold. „Noch ist ja zu tun. Und alle sind voll bei der Sache. Wenn die Sicherungsbereitschaft erst mal da ist, wird das sicher komisch.“ Komisch sei es jetzt schon, findet Obermaschinist Erich Wirtz. Groß, schnauzbärtig und mit in die Hüfte gestemmten Armen steht er in seinem Blaumann im Leitstand, neben ihm ein großes Schaltpult mit lauter Knöpfen und Monitoren. Der längliche Raum liegt in der Halle, in der der Generator untergebracht ist. Zwei von Wirtz’ Kollegen rauchen Zigaretten. Auch das wirkt wie aus einer anderen Zeit. „Das ist ein seltsames Gefühl, hier morgens nach dem Umziehen reinzukommen und alles ist so leise“, sagt er. 61 Jahre alt wird er demnächst, seit 27 Jahren arbeitet er im Kraftwerk Frimmersdorf. „Ich gehe dann in Altersteilzeit.“ Die meisten Jobs hier werden gestrichen. In den drei Kohletagebaustätten sind es insgesamt 900 Arbeitskräfte und im Gesamtkohlebetrieb von RWE bis 2022 1500 Mitarbeiter, die in Zukunft eingespart werden.
Neben Strom, den das Kraftwerk künftig zieht und nicht produziert, braucht der Gebäudekomplex im Ruhezustand auch Wasser. Mehrere Tausend Kubikmeter pro Stunde, um Systeme zu kühlen. Die Fernwärme gegen den Frost kommt aus dem benachbarten Kraftwerk Neurath.
Während der nächsten vier Jahre muss das Kraftwerk für den Ernstfall einer Versorgungsstörung in Bereitschaft bleiben. In zehn Tagen muss die Anlage zündbereit sein, innerhalb eines weiteren Tages auf Volllast laufen. Ein Spaziergang wäre das nicht, ist sich Fritjof Wirling sicher. Jede einzelne Konservierungsmaßnahme muss dann wieder rückgängig gemacht werden. Mögliche Szenarien, die das Hochfahren des Kraftwerks erfordern könnten, wären ein sehr harter Winter oder Versorgungsengpässe aus dem Ausland.
Vom Dach des Kraftwerksblocks Q aus ist am Horizont ein Schaufelradbagger zu erkennen. Im Tagebau Garzweiler wird jetzt weniger Kohle gefördert als zuvor. Frimmersdorf hat zu Betriebszeiten 160 000 Tonnen Kohle pro Tag verfeuert. Die fallen jetzt weg. Die Kohlebunker im Kraftwerk sind leer, die Kohlereste mit einer Sandschicht bedeckt, damit sie sich nicht selbst entzünden.
Fritjof Wirling ist 61 Jahre alt, arbeitet seit 1986 für den Energiekonzern. „Die Zeiten haben sich schon sehr geändert“, bemerkt er beiläufig. Ein bisschen sentimental stimme ihn die langsame Einmottung des Kraftwerks schon, gibt er zu. Eine Ära geht zu Ende. Für ein Foto lehnt sich Fritjof Wirling auf dem Dach an das Geländer, im Hintergrund sind die Kühltürme zu sehen, aus denen kein Qualm mehr aufsteigt. „Soll ich jetzt lächeln?“, fragt er. „Ich weiß gar nicht, ob ich das vor der Kulisse noch darf oder nicht.“