Siegeszug des Sensors: Conti testet neue Sicherheitstechnik
Hannover (dpa) - Skeptiker warnen vor einer schleichenden Entmündigung des Fahrers, die Industrie schwärmt vom „selbstdenkenden Fahrzeug“ - immer mehr Mini-Computer sollen für Sicherheit, Komfort und Unterhaltung im Auto sorgen.
Im Conti-Testzentrum werden sie geprüft.
Am Südrand der Lüneburger Heide soll das Auto der Zukunft Gestalt annehmen. Zwischen stillen Nadelwäldern und grünen Wiesen testet die weltweite Nummer zwei der Zulieferer neue Systeme bis zur Serienreife. Das 42 Hektar große „Contidrom“ ist heute aber mehr als nur eine private Rennstrecke. Mal quietschen Reifen und heulen Motoren - dann schnurrt fast geräuschlos ein E-Mobil vorbei. Zur „Techshow“ zeigen die Continental-Entwickler alles, was aus ihrer Sicht die Mobilität von morgen ausmacht.
„Fahren Sie ruhig geradeaus weiter“, ermuntert Bernd Hartmann den Fahrer, während der dunkle BMW mit Tempo 80 bedrohlich auf das immer näher kommende Hindernis zuhält. Nur noch wenige Meter trennen den Wagen auf dem Werksparcours bei Wietze im Landkreis Celle von der Kollision, man möchte beinahe die Tür aufreißen und hinausspringen.
Als das Lenkrad im letzten Moment herumgerissen wird, weicht das Auto wie von Geisterhand gesteuert aus. Ein lautes Piepsignal, auch das Elektronische Stabilitätsprogramm ESP bremst automatisch an. Eng, aber sicher umkurvt der Wagen die Barriere auf der Fahrbahn.
Der Notlenkassistent - er funktioniert über einen Radarsensor und eine 3-D-Stereokamera - ist nur eines von vielen Projekten, das die Hannoveraner für eine spätere Serienfertigung fit machen. Der Siegeszug der Mini-Computer, die dem Fahrer Entscheidungen abnehmen, sei jedoch kein Selbstzweck, erklärt Hartmann, als das Auto mit den durchgeschüttelten Passagieren zum Stehen kommt: „Den Anfang muss nach wie vor der Mann oder die Frau hinterm Steuer machen. Erst wenn es wirklich brenzlig wird, greift die Elektronik zusätzlich ein.“
Unfälle verhindern helfen, ohne den Menschen völlig zu entmündigen - in diesem Spannungsfeld bewegen sich alle Autobauer und Zulieferer, die auf neuartige Assistenzsysteme setzen. Beim größten europäischen Hersteller Volkswagen will Forschungsleiter Jürgen Leohold Systeme, die bisher nur in Oberklasse-Limousinen à la VW Phaeton oder Audi A8 zum Einsatz kamen, auch bei sogenannten Volumenmodellen voranbringen.
Was die Wolfsburger etwas pathetisch als „Demokratisierung von Innovationen“ beschreiben, treibt auch die Conti-Entwickler auf dem Testgelände um. Falsches Fahrverhalten und Unachtsamkeit seien für mehr als 90 Prozent aller Verkehrsunfälle in der EU verantwortlich, sagt Ralf Lenninger, Forschungschef für Innenausstattungen: „Wir haben 40 Quellen der Fahrerablenkung identifiziert. Mit der heutigen Technik können wir helfen, dass es weniger Blindflug im Auto gibt.“
Inzwischen verfügen moderne Pkw über rund 20 000 Schnittstellen, die „miteinander kommunizieren“, wie es Lenninger ausdrückt. Bald könnten es doppelt so viele sein. Kein Wunder, dass auch andere Anbieter und Branchen ein Riesengeschäft mit der Sensorik wittern.
„Vernetzung im Auto ist nicht nur eine technische Frage, sondern eine Frage der Kooperation verschiedener Industrien“, betont der Conti-Mann. Die Management-Beratung Oliver Wyman resümierte kürzlich in einer Studie: „In ihrer Tragweite sind diese Herausforderungen mit denen von Elektromobilität und Leichtbau vergleichbar.“ Hauptziele sind mehr Sicherheit im Verkehr und ein energieeffizienteres Fahren.
Thomas Stadlbauer demonstriert die Rolle der elektronischen Helfer am Beispiel einer Entwicklung, die teils schon marktreif ist. Wie im Kamikaze-Flug steuert sein Golf auf die Schaumstoffwand zu. „Der Fahrer muss aber nichts tun, das Auto geht aus 30 bis 40 km/h selbst in die Eisen“, verspricht der Leiter der Conti-Fahrwerkssensorik.
Gesagt, getan: Ein flaues Gefühl im Magen, die Insassen werden heftig in die Gurte gedrückt - der Notbremsassistent spricht an. In einfacher Ausführung ist das System mit dem Windschutzscheiben-Laser zur Erkennung von Hindernissen bereits bei VW, Volvo und Ford im Programm. Ein Kombigerät mit Stereokamera kommt 2014 auf den Markt.
Branchenführer Bosch sieht in der Sensorik ebenfalls großes Potenzial. Sie berge „enorme Entwicklungschancen“, sagte der designierte Firmenchef Volkmar Denner im dpa-Interview. Dabei wollen die Schwaben die dienstbaren Prozessoren auch in anderen Feldern wie der neu gegründeten Sparte Energie- und Gebäudetechnik mit weiteren Aufgaben versehen. In der Elektromobilität will das Unternehmen mit zuletzt 51,5 Milliarden Euro Jahresumsatz ähnliche Akzente setzen, eine Forschungszentrale bei Stuttgart soll die Technik verfeinern.
Bei Conti, dessen Erlöse noch stärker von der traditionellen Kfz-Ausrüstung abhängen als im Fall Boschs, rückt das Sensorgeschäft ins Zentrum. Vor zwei Wochen legte der Konzern die Fahrwerks- und Sicherheitssensorik mit den passiven Systemen wie der Airbagsteuerung zusammen - für Chefentwickler James Remfrey ein logischer Schritt: „Wir sind überzeugt, dass es eines Tages möglich ist, Auto zu fahren ohne Unfälle mit Toten oder Schwerverletzten.“ Verschärfte Vorgaben speziell in den USA trieben die Forschung voran.
Von der Technik sollen nicht zuletzt unaufmerksame Fußgänger profitieren. Dummy „Anton“ schlendert - an einer Schnur aufgehängt - auf die Fahrbahn, von fern donnert ein schwarzer Passat mit einem ganzen Kofferraum voller Messtechnik heran. Glück für die Stofffigur: Das Auto weicht etwa 30 Meter vor einem Zusammenstoß aus, ohne dass „Anton“ touchiert und womöglich ein Fall für die Notaufnahme wird. „Prinzipiell kann diese Stereokamera am Wagen auch freilaufende Hunde oder Wildschweine erkennen“, versichert ein Conti-Tüftler.
Doch erst wenn sich Autos großflächig untereinander („Car-to-Car“) sowie mit der Infrastruktur („Car-to-X“) verständigen, bringen derlei Systeme allen Verkehrsteilnehmern ein echtes Sicherheitsplus. Das von Daimler koordinierte und vom Bund mit 40 Millionen Euro geförderte Konsortium simTD, an dem sich über ein Dutzend Autobauer, Zulieferer und Forschungseinrichtungen beteiligen, soll Pionierarbeit leisten.
Ulrich Stählin ist beim simTD-Test rund um Frankfurt dabei. Jetzt dreht der Ingenieur erst mal eine Schlussrunde auf dem „Contidrom“. Er will links abbiegen, übersieht den Gegenverkehr. Sein Auto bremst gerade rechtzeitig, weil es den WLAN-Sender im anderen Fahrzeug per Funk erkannt hat. Der Wagen berechnet zudem die Rot- und Grünphasen von Ampeln, „man passt sich dann so an, dass man gut durchkommt“.
Was bisher meist noch mit Pkw ausprobiert wird, soll später auch in schweren Brummis für Sicherheit sorgen. Ein eigener „Innovation Truck“ rollt Ende September auf die IAA-Nutzfahrzeugmesse. Conti-Mann Jochen Brickwede glaubt an den Erfolg der Automatisierung: „Sämtliche Sensorik, die Sie hier sehen, wird auch in Lastwagen möglich sein.“