Beliebt, aber oft vernachlässigt: Das Fahrrad erobert Europa

Brüssel (dpa) - Etwas schuldbewusst guckt Fabian Küster drein, als er zugibt: Heute ist er nicht mit dem Fahrrad zur Arbeit gekommen. „Ich musste drei Kinder zur Schule bringen. Da ging es nicht“, sagt er.

Foto: dpa

Küster ist Fahrrad-Lobbyist in Brüssel. Sonst fahren er und seine Kollegen vom Europäischen Radfahrer-Verband (European Cyclists' Federation, ECF) meist ohne Kohlendioxid-Emissionen zu ihrem Altbau-Büro. „Wir sind Überzeugungstäter“, sagt Küster. Aber nicht alle europäischen Länder machen es den Radlern leicht.

Wie viel Geld die einzelnen Staaten für Radfahren, Fahrradwege oder Fahrradparkplätze ausgeben, ist sehr unterschiedlich. In Holland investieren dem ECF zufolge lokale, regionale und nationale Behörden für jeden Einwohner jährlich 25 Euro in die Rad-Infrastruktur. In Deutschland seien es nur rund 5 Euro.

Deshalb hat die Bundesrepublik auch einen Nachteil für Radler, findet Küster: „Den beschissenen Zustand der Fahrradwege.“ Auch in Brüssel finden Radfahrer wenig eigene Spuren. Es sei eine Herausforderung, sich in der EU-Hauptstadt in den Verkehr einzuordnen.

„Angst vor Lastwagen oder Autos ist ein wichtiger Grund für die Menschen, nicht Rad zu fahren“, sagt Jos Dings. Er ist der Direktor von Transport and Environment (T&E), einem Verband nichtstaatlicher europäischer Organisationen, die sich für umweltfreundlichen und sicheren Verkehr einsetzen.

Die EU geht dieses Problem mit Forschungs- und Fördergeldern an. So stellt Brüssel in der Förderperiode 2014-2020 zum Ausbau von Fahrradwegen und Gehwegen bis zu zwei Milliarden Euro bereit. In Studien lässt die EU-Kommission untersuchen, wie stark Helme das Verletzungsrisiko für Radler senken. „Im Vergleich zum Autofahren ist Radfahren gesünder und verringert zudem die durch Lärm, Verschmutzung und Staus verursachten Probleme“, schreibt die EU-Behörde. Radeln müsse attraktiver und sicherer werden.

Den Lobbyisten reicht das aber nicht. „Es gibt wohl nicht die eine, große, glänzende Sache, die die EU für das Radfahren tun kann“, sagt Dings und beklagt, es gebe noch nicht einmal einheitliche Ventile in Europa für Reifenschläuche. Dings fordert EU-Vorschriften, dass Autos und Lastwagen mit fortschrittlicher Sicherheitstechnik ausgerüstet sein müssten, um Fußgängern oder Radfahrern auszuweichen. In der EU solle es nur noch Geld für neue Straßen geben, wenn dort auch Platz für Fahrräder sei.

Ein Anreiz zum Umsteigen aufs Fahrrad kann nach Ansicht der Lobbyisten auch sein, dass Autofahrer für die Abgase ihrer Wagen zahlen müssen. London, Stockholm und Mailand etwa haben bereits eine City-Maut. „Genau dort ist die Zahl der Radfahrer explodiert“, sagt Dings. Hier könnte die EU mit Standards helfen. Denn bislang müsse jede Stadt eine Methode ausprobieren; Systeme für eine Innenstadtmaut seien kompliziert und teuer.

Dabei werden Fahrräder fast überall in Europa beliebter: das Retro-Rennrad für Hipster, das E-Bike für Rentner oder Leistungssportler und das Lastenrad für den Pizzaboten. Rund 11,7 Millionen Fahrräder im Wert von etwa 2,3 Milliarden Euro wurden 2013 in der EU verkauft, wie die aktuellsten Zahlen des europäischen Statistikamts Eurostat zeigen. Das sind rund 150 000 mehr als im Jahr zuvor. Dazu kommt der noch recht junge Trend der E-Bikes, 2013 kauften die Europäer laut Küster rund 480 000 davon.

Besonders gerne fahren bekanntermaßen die Niederländer Fahrrad. 36 Prozent von ihnen sagten in einer Eurobarometer-Umfrage der EU-Kommission von 2014, vor allem per Rad von A nach B zu kommen. Damit hat Holland die höchste Radfahrer-Quote aller EU-Staaten, und eine höhere als noch vier Jahre zuvor (31 Prozent).

In Dänemark nutzte fast jeder Fünfte hauptsächlich das Fahrrad. Malta war Schlusslicht: Dort gab gar niemand an, in erster Linie zu radeln. In Deutschland berichteten immerhin 12 Prozent der Menschen, mit Vorliebe aufs Rad zu steigen - weniger als noch 2010 (13 Prozent), aber mehr als im relativ niedrigen EU-Schnitt von acht Prozent.

Wie häufig die Europäer wirklich in die Pedale treten - dazu gibt es kaum verlässliche Daten aus den einzelnen EU-Staaten. „Das ist ein Symptom“, sagt Küster von der ECF. Das Rad bekomme viel weniger Aufmerksamkeit als das Auto. „Das Fahrrad sollte ein vollwertig anerkanntes Verkehrsmittel werden“, wünscht sich der Lobbyist.

Nach Ansicht von Umweltschützern sollte die Politik das Rad neu erfinden. Die Steuergesetze bevorzugen vielerorts Autofahrer, für Pendler per Rad fehlten steuerliche Vorteile. Die EU-Kommission hat das Ziel, bis 2050 die CO2-Emissionen des Verkehrs um 60 Prozent im Vergleich zu 1990 zu reduzieren. „Davon sind wir meilenweit entfernt“, sagt Küster.

Wie viel Radfahren dazu beitragen kann, ist nur schwer zu beziffern. Als sicher gilt aber, dass es positiv auf den Menschen, seine Gesundheit und seine Umwelt wirkt. Wer ins Radfahren investiert, besitzt dann womöglich statt eines Sportwagens ein Rennrad-Unikat als Statussymbol. Drei Kinder haben ohnehin in beiden keinen Platz.