Frühe Visionen der Autoentwickler
Berlin (dpa/tmn) - Wer heute Bücher von Jules Verne oder George Orwell liest, muss bisweilen schmunzeln. Denn die Gegenwart ist häufig viel fantasievoller, als sich diese Vordenker die Zukunft in der Vergangenheit ausgemalt haben.
Das ist bei Autos nicht anders.
Ginge es nach Männern wie Harley Earl, wäre der tägliche Stau kein Problem mehr. Und auch über weite Wege müsste keiner mehr klagen. Earl war in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Designchef beim US-Konzern General Motors und hat Autos mit Fähigkeiten entworfen, nach denen sich viele heute noch sehnen. Bei zu dichtem Verkehr konnten sie abheben, bei zu großen Distanzen haben sie kurzerhand eine Jet-Turbine gezündet.
Natürlich glaubte auch Earl nicht an die sofortige Umsetzbarkeit solcher Ideen. Vielmehr schuf er Autos wie die legendären Firebirds als Blickfang für die GM-eigene Autoausstellung Motorama, die als „Parade des Fortschritts“ jedes Jahr durch Amerika tingelte. Doch zu Zeiten, als erste Raumschiffe in den Himmel aufstiegen, hatten die Autoentwickler einen ausgesprochen weiten Horizont. Blicken sie heute mit ihren Messemodellen oft nur einige Jahre voraus bis zur nächsten Fahrzeuggeneration, waren Studien damals pure Science-Fiction.
Das Düsentriebwerk galt zu dieser Zeit als denkbarer Antrieb und hat es bei Chrysler mit dem Turbine Car nach fast 20 Jahren Forschung 1963 sogar in die Serienproduktion geschafft. „Allerdings wurden davon keine 100 Exemplare gebaut“, sagt der amerikanische TV-Star Jay Leno, der einen dieser Raketenwagen besitzt. „Die Idee ist leider etwas in Vergessenheit geraten“, bedauert der Autosammler.
Ähnlich populär war in dieser Zeit das Auto mit Atomantrieb: So gab es 1957 von Studebaker-Packard die Studie Astral, die sich ähnlich wie Raumschiff Enterprise ein Energieschild zum Schutz vor Unfällen leistete. Ford zeigte ein Jahr später das Showcar Nucleon mit Uranreaktor zwischen den Hinterrädern und einer Reichweite von 8000 Kilometern. Und auch bei den Atommächten Frankreich und Russland wurde kräftig am Nuklear-Antrieb getüftelt. Gefahren sind diese Autos aber nach bisherigem Wissen nie.
Es waren nicht nur Autodesigner und Entwickler, die ihren Ideen freien lauf ließen. Selbst Architekten fühlten sich berufen, neben den Straßen auch die Autos zu revolutionieren. Von Le Courbusier gibt es zumindest den Entwurf eines Kleinwagens, und Richard Buckminster Fuller hat sein Dymaxion Car als Zeppelin auf Rädern in den 30er Jahren sogar gebaut. Es war extrem leicht, ungeheuer wendig und mit 190 km/h so schnell, dass ihm der Architekt später sogar das Fliegen beibringen wollte. Nach einem Unfall bei der Weltausstellung in Chicago 1933 verliefen die Entwicklungen allerdings im Sande.
Am Flugauto wird noch immer geforscht, mit einem Serienfahrzeug abheben kann man bislang nicht. Und das Atomauto wird spätestens nach dem Reaktorunfall von Fukushima trotz des Booms für Elektroantriebe wohl nie kommen. Stattdessen werden für einige Entwickler Turbinen wieder interessant - als Hilfsmotor. In der Sportwagenstudie C-X75 von Jaguar treiben sie einen Generator an, der Strom für den E-Motor erzeugt. „Die Technik fasziniert uns und wird zur Serienreife entwickelt“, sagt Markenchef Adrian Hallmark. Die Konzernmutter Tata habe sich bereits am Zulieferer der Turbinen beteiligt.
Die Vorausdenker beschäftigten sich aber nicht nur mit neuartigen Antrieben. Und zahlreiche Technikvisionen, die früher weit hergeholt schienen, wurden Wirklichkeit. So standen auf den Motorama-Shows nach Angaben des GM Heritage Centers in Detroit bereits in den 50er Jahren die ersten Autos mit schlüssellosem Zugangssystem, mit Licht- und Regensensor, Rückfahrkamera oder einer elektronischen Spurführung. Eine praktische Entwicklung von damals hat es leider nicht geschafft: Ein Cabrio, das bei schlechtem Wetter automatisch das Dach schließt, wünscht man sich in einem verregneten Sommer heute noch.
Zu jener Zeit war die Zukunft noch in Amerika zu Hause. Denn Europa war zu sehr mit den Nachwehen des Krieges beschäftigt, als dass die Autobauer sonderlich weit nach vorne schauen konnten. Doch wer heute durch die Werksmuseen von Mercedes, BMW oder VW schlendert, lernt schnell, dass sich das über die Jahre geändert hat.
Bei BMW etwa stößt man auf den E1 von 1991: Das kleine, nur 3,40 Meter lange Elektroauto wollte so gar nicht in seine Zeit passen. Heute gilt es als Steilvorlage für den i3, den die Bayern in zwei Jahren auf den Markt bringen wollen. Ähnlich beispielhaft ist der Mercedes NAFA. Als die Schwaben im Jahr 1986 ihr 2,50 Meter kurzes „Nahverkehrsfahrzeug“ erstmals zeigten, dachten die meisten an eine Telefonzelle auf Rädern und hielten sich den Bauch vor Lachen. Schaut man es heute an, sieht man darin die erste Studie für den Smart.
Beim NAFA dauerte es rund 10 Jahre, bis etwas Vergleichbares in Serie ging, beim E1 werden es mehr als 20 Jahre sein. Inzwischen hat sich die Halbwertzeit der Studien und Showcars extrem verringert: Wirkte das VW-Einliter-Auto L1 bei seiner Premiere vor zwei Jahren noch wie ein Ufo aus ferner Zukunft, sieht die Karbon-Zigarre im Vergleich zur aktuellen IAA-Studie VW Nils schon irgendwie alt aus.