Vorfahrt fürs Rad? - Großstädte buhlen um Radfahrer
Berlin (dpa) - Radfahren in Berlin gleicht oft einem Rennen. Gerade vom Bus überholt, fährt der rechts ran. Der Radler vorbei, dann wieder der Bus. An jeder Haltestelle wechselt die Führung. An jeder Ampel ein neuer Startschuss.
In der Großstadt ist Radfahren nervenaufreibend und oft gefährlich.
Trotzdem sind immer mehr Leute auf dem Rad unterwegs - längst nicht nur in der Freizeit. Die Städte finden es gut. Doch an den Bedingungen müssen sie arbeiten.
München, Hamburg, Berlin, sie alle wollen „Fahrradstadt“ oder sogar „Radlhauptstadt“ sein. Politiker versprechen mehr Radwege, mehr Stellplätze, mehr Leihräder. Das Ziel: Der Anteil der Radfahrer am Gesamtverkehr soll auf 18 bis 25 Prozent hochgeschraubt werden. Das heißt: Jeder fünfte Weg - in Hamburg sogar jeder vierte - soll einer mit dem Fahrrad sein. Doch bislang, so betont Stephanie Krone vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC), habe keine der Großstädte ihren angestrebten Titel verdient.
Dabei gibt es in deutschen Haushalten längst viel mehr Fahrräder als Autos - rund 68 Millionen laut Statistischem Bundesamt. Jeder achte Weg wird schon im Sattel zurückgelegt. Und die Fahrradindustrie verkauft immer mehr.
„Der Stellenwert des Fahrrads hat sich in den letzten Jahren stark verändert“, sagt der Geschäftsführer des Zweirad-Industrie-Verbands, Siegfried Neuberger. Früher sei es ein Freizeitprodukt gewesen, jetzt „ein selbstverständlicher Teil der alltäglichen, individuellen Mobilität“. Bedeutet: Mehr Menschen nutzen das Rad für den Weg zur Arbeit, zum Einkaufen, als Auto-Ersatz.
Trotzdem haben Autofahrer auf den Straßen viel mehr Platz. Der Berliner Fahrrad-Aktivist Heinrich Strößenreuther hat nachgemessen, mit Zollstock und GPS in 200 Hauptstadt-Straßen. Das Ergebnis: Für Autofahrer seien 19 mal mehr Verkehrsflächen vorhanden als für Radfahrer. Dabei wird in Berlin nicht einmal jeder dritte Weg mit dem Auto zurückgelegt. „Wenn man einen höheren Radverkehrsanteil haben will, muss man mehr Platz für Radfahrer reservieren“, sagt Strößenreuther. Um ihre Ziele zu erreichen, müsse die Landesregierung Radwege um 600 Prozent ausbauen.
Doch mehr Radwege allein sind keine Lösung. Besser müssten sie sein, geht aus einer Umfrage für das Verkehrsministerium hervor. Besser heißt zum Beispiel breiter. Das probiert Berlin gerade in Kreuzberg, am Moritzplatz, einem Unfallschwerpunkt. In zwölf Stunden fahren 7300 Radler über diesen Platz. Seit kurzem haben sie Wege mit mehreren Spuren, die Autos dafür weniger Raum.
Die Bundesregierung fördert den Radverkehr in diesem Jahr mit rund 94,5 Millionen Euro - vor allem für Wege an Bundesstraßen. In den Städten müsse vor allem an Kreuzungen gearbeitet werden, meint Sabine Schulten vom Deutschen Institut für Urbanistik. An Ampeln sollten Radfahrer mehrere Meter vor den Autos stehen, ihre Wege nicht auf dem Bürgersteig, sondern der Straße angelegt sein. „Je häufiger Autofahrer Radlern begegnen, desto eher passen sie auf“, sagt auch der Münsteraner Verkehrswissenschaftler Gernot Sieg.
Strößenreuther sieht noch ein anderes Problem: Lieferwagen und Paketdienste, die in der zweiten Reihe parken. Um an ihnen vorbeizukommen, müssen Radler in den Autoverkehr. Gefährliche Überhol- und Bremsmanöver sind die Regel. „Dagegen tut keine Stadt was“, kritisiert der Aktivist und schlägt vor, jeden zehnten Autoparkplatz zu einer Ladezone umzuwandeln.
Von zugeparkten Radwegen seien Berliner Radfahrer besonders genervt, heißt es auch beim ADFC. In Hamburg seien schmale und holprige Wege - mit Eis und Schnee im Winter - die größten Probleme. In beiden Städten fühlten sich auch Vielradler unsicher. „München macht unter den deutschen Metropolen noch am meisten Hoffnung“, sagte Krone.
Doch an die Streber kommt auch Bayerns Landeshauptstadt nicht ran. Das sind Städte wie Kopenhagen oder Amsterdam mit ihren beheizten Radwegen, schräg gestellten Mülleimern und spektakulären Fahrradbrücken. Bis diese Städte so weit waren, habe es aber auch 20 bis 30 Jahre gedauert, gibt Strößenreuther zu bedenken. In Deutschland sieht er mittelgroße Städte wie Münster oder Oldenburg auf dem besten Weg.
Anderswo fehle im Grunde weniger das Geld als der politische Wille, sagen die Experten. „Die Städte trauen sich nicht, den Konflikt mit den Autofahrern einzugehen und ihnen einfach Flächen wegzunehmen.“ Deutschland hätte zwar gern Fahrradstädte, bleibe aber Autoland.