Detmold. Die vielen Fragen nach dem monströsen Missbrauchsfall
Detmold. · Eine Forderung: Für Internetanbieter soll es bei Kinderpornografie endlich eine Meldepflicht geben.
Sexuelle Gewalt gegen Kinder. Gegen viele Kinder, gegen kleine Kinder. Über zehn Jahre hinweg, tausendfach. Die jüngsten Opfer waren gerade mal vier Jahre alt, als sie in einer heruntergekommenen Unterkunft auf einem Campingplatz im nordrhein-westfälischen Örtchen Lügde bei Detmold missbraucht wurden.
Erschütternd sind die Taten, drastisch die Ausmaße. So sehr, dass es auch den Ermittlern zusetzt, die schon in so manche menschlichen Abgründe schauen mussten. Als Gunnar Weiß, Leiter der Ermittlungskommission, den Fall am Mittwoch vorträgt, ringt er um Fassung, muss abbrechen, die Stimme versagt.
Am Tag danach werden vor allem Fragen laut. Wie konnte das geschehen? Wie schützt man seine Kinder? Was macht die Politik?
Ein großes Problem ist das meistens geschickte, perfide Vorgehen der Täter bei sexueller Gewalt gegen Kinder, warnen Experten. „Die Täter bauen über Monate hinweg eine Beziehung auf, bieten Zuwendung an und nehmen sich viel Zeit“, sagt der Chef der Deutschen Kinderhilfe, Rainer Becker. „Diese Leute gehen hoch manipulativ vor und setzen die Kinder auch erheblich psychisch unter Druck.“ Nach dem Motto: Wenn du zu Hause was erzählst, stecken sie dich ins Heim.
Auch in Lügde waren die Verdächtigen skrupellos wie strategisch vorgegangen. Die Kinder sollten sich wohlfühlen, es gab Besuche im Freizeitpark. Die ebenfalls missbrauchte Pflegetochter des 56 Jahre alten Hauptverdächtigen musste als Lockvogel herhalten.
Auf dem Campingplatz an der Grenze von NRW zu Niedersachsen sollen der 56-Jährige und ein 33-Jähriger die Kinder seit 2008 wechselweise missbraucht und dabei gefilmt haben. Ein dritter Verdächtiger soll Auftraggeber gewesen sein. Mehr als 1000 Fälle werden ihnen vorgeworfen. Die Männer sitzen in Untersuchungshaft. Ein gewaltiger Ermittlungsaufwand steht bevor.
Mehr Personal bei Polizei
und Jugendämtern erforderlich
„Sexuelle Gewalt hinterlässt sehr selten sichtbare Spuren am Körper und ist daher schwer zu beweisen“, sagt Becker. Die Polizei und vor allem Ermittler im Bereich Cyberkriminalität bräuchten mehr Personal. „Und die Jugendämter haben große personelle Defizite, die sind runtergespart worden ohne Ende.“ Zudem sieht der Kinderhilfe-Chef eine „ganz erhebliche politische Vernachlässigung“, dass man Internetanbieter nicht verpflichte, kinderpornografische Inhalte im Netz zu melden.
Ebenfalls deutlich wird Johannes-Wilhelm Rörig, Beauftragter der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Missbrauchs, der eine solche Meldepflicht für Provider schon länger verlangt. „Ich setze sehr darauf, dass dieser monströse und tragische Fall die große Koalition jetzt wachrüttelt.“
Auch die NRW-Landesregierung sei gefordert, so Rörig: „Sie ist absolut in der Pflicht, aufzuklären, welches Handeln dazu geführt hat, dass das Kindeswohl in so vielen Fällen unter die Räder gekommen ist.“ Schwachstellen müssten analysiert, Defizite behoben werden. Rörig plädiert für eine Kinderschutz-Kommission, die alle offenen Fragen aufarbeitet – zusätzlich zu den strafrechtlichen Ermittlungen.
Eltern sollten sich ihrer Verantwortung bewusst und wachsam sein, unterstreicht der Deutsche Kinderschutzbund. „Es macht nachdenklich, dass sehr kleine Kinder unter den Opfern sein sollen. Dass man sie unbeaufsichtigt und immer wieder auf einen Campingplatz gehen lässt, wirft auch die Frage nach der Aufsichtspflicht auf“, meint Vize-Geschäftsführerin Martina Huxoll-von Ahn.
Kann man Anzeichen ausmachen, bei denen Eltern skeptisch werden sollten? „Es gibt keine wirklich eindeutigen Symptome bei sexuellem Missbrauch.“ Aber Verhaltensauffälligkeiten, die ein Hinweis sein könnten, so Huxoll-von Ahn. Ein auffälliger Rückzug etwa, aggressives Verhalten gegen sich selbst, Konzentrationsprobleme, Leistungsabfall in der Schule.
Die Bundesstelle Initiative-Stark-Team empfiehlt, in deutschlandweit allen rund 17 000 Grundschulen einen speziell geschulten Lehrer als Kinderschutzbeauftragten einzusetzen. Auch der Bundesbeauftragte Rörig meint: „Den Sonntagsreden müssen nun politische Taten folgen.“