Analyse: Wie China soziale Netzwerke auswertet
Peking (dpa) - Zensur war die Antwort von Chinas Führern auf die Macht des Internets. Doch nun entdecken sie den Nutzen Sozialer Netzwerke. Zwei Millionen „Analysten“ sollen bereits das Netz durchforsten.
Der junge Informatiker ist in hoher Mission unterwegs. Auf keinen Fall soll sein Name an die Öffentlichkeit gelangen, nicht mal der seiner Firma. Denn in seinem Metier ist Diskretion alles. Er ist eine Art digitaler Meinungsforscher im meist streng zensierten chinesischen Internet.
Im riesigen China mit seinen 1,3 Milliarden Menschen steht die Kommunistische Partei (KP) vor einer entscheidenden Herausforderung. Auf der einen Seite wird jede öffentliche Meinungsäußerung genau kontrolliert, auf der anderen Seite muss die Partei dringen wissen, was das Volk will. Sonst riskiert sie soziale Unruhen.
Genau dabei hilft der junge Informatiker, in dem er einen gewaltigen Schatz an Informationen anzapft: Nachrichten, die über Soziale Netzwerke in China ausgetauscht werden. Mittlerweile soll es bereits zwei Millionen „Analysten für öffentliche Meinung“ geben, schreibt die staatliche Zeitung „Beijing News“. Demnach bekommen die „Analysten“ täglich Themen vorgegeben, und durchforsten das Netz mit speziellen Suchprogrammen, die auf tausende Server zugreifen können. Nähere Details nennt der Bericht jedoch nicht.
600 Millionen Menschen haben in China laut dem China Internet Network Informationen Center (CNNIC) einen Internetzugang. Der größte Teil von ihnen ist auf Sozialen Netzwerken wie den twitterähnlichen Kurzmitteilungsdiensten Weibo aktiv. Dabei sind viele Internetinhalte in China zensiert. Doch während die „Große chinesische Firewall“ ausländische Portale wie Facebook, Twitter oder YouTube sperrt, haben die Weibo trotz aller Zensur eine verblüffende Dynamik entwickelt.
„Seit Gründung der Weibo im Jahr 2009 haben sie sich zu einem mächtigen Werkzeug entwickelt“, sagt der bekannte chinesische Blogger Michael Anti. „Sie sind zu einem einflussreichen Sprachrohr geworden.“ 60 000 staatliche Einrichtungen und Organisationen sollen laut Medienberichten bereits auf den Weibo eigene Profile haben. Jüngst startete sogar Chinas Staatsrat seinen ersten Weibo-Account.
Die Analyse der Daten aus den Netzwerken ist ein großes Geschäft. Öffentlich will sich niemand dazu äußern. Aber hinter vorgehaltener Hand sprechen Branchenkenner von einem riesigen Interesse der Zentralregierung und der Provinzbehörden. Selbst das Parteiorgan „Volkszeitung“ habe eine eigene Abteilung, die Soziale Netzwerke auswertet.
Ein Grund dafür ist möglicherweise, dass in den Internet-Diensten zumindest ein Hauch an freier Meinungsäußerung möglich ist. Das fand ein Team von Wissenschaftlern der Harvard Universität heraus. Demnach löschen Zensor nicht pauschal alle kritischen Einträge gegen die Regierung, ganz im Gegenteil. Teilweise lässt die Regierung die Kritik offenbar bewusst zu und wertet sie aus, schreiben Gary Kind, Jennifer Pan und Margaret E. Roberts in einem Artikel für die Fachzeitschrift „American Political Science Review“. „Dies kann ein effektives Werkzeug für die Regierung sein, um zu lernen, wie sie die Bedürfnisse des Volkes befriedigen und letztlich verändern kann“, resümieren die Forscher.
Politikwissenschaftler Jay Ulfelder geht noch einen Schritt weiter. Er stellt die Frage, ob die Auswertung Sozialer Netzwerke eine Form der Demokratisierung sein kann. Menschen nach ihrer Meinung zu fragen und ihre Antworten auszuwerten sei ein großer Schritt in dem Ein-Partei-System. „Aber diese Form der Anhörung ist nicht geschützt, gleichberechtigt oder bindend“, schreibt er in seinem Blog. Viele Bauern in China haben keinen Internetzugang, und zu kritische Blogger müssen harte Strafen fürchten.
Genau das ist für Michael Anti der entscheidende Konflikt: „Es ist ein Widerspruch, wenn auf der einen Seite Einträge gelöscht werden und Blogger verfolgt werden, auf der anderen Seite aber die Regierung die wahren Gedanken der Bevölkerung wissen will.“
In den vergangenen Wochen sind Dutzende Blogger verhaftet worden. Ein neues Gesetz stellt die Verbreitung von Gerüchten im Internet unter Strafe, wenn eine falsche Behauptung mindestens 500 Mal geteilt oder mindestens 5000 Mal gelesen wird. Er ist aber nicht klar geregelt, was als Gerücht zählt. Damit schneidet sich die Parteiführung nach Ansicht von Anti ins eigene Fleisch: „Wenn Bloggern das Reden verboten wird, erfährt die Regierung nichts.“