Jimmy Wales: „Wikipedia ein kulturelles Phänomen“

Berlin (dpa) - Mit gerade einmal zehn Jahren ist Wikipedia noch ein junges Projekt - trotzdem wollen die Macher des Online-Lexikons, dass es Unesco-Welterbe wird.

Im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur berichtete Wikipedia-Gründer Jimmy Wales, wen eine solche Auszeichnung belohnen soll, was das Lexikon mit Flamenco gemeinsam hat und wann er sich vorstellen könnte, die Artikel in gedruckter Form zu veröffentlichen.

Wikipedia gehört zu den zehn beliebtesten Websites der Welt und hat täglich Millionen von Besuchern. Warum soll die Enzyklopädie jetzt noch Welterbe der Unesco werden?

Jimmy Wales: „Das wäre eine wunderbare Anerkennung für all die Tausenden von Freiwilligen, die an der Wikipedia arbeiten, eine Anerkennung des freien Wissens.“

Welterbe - da denkt man eher an Dinge wie den Kölner Dom oder das Wattenmeer.

„Die Unesco erkennt nicht nur physische Dinge wie Denkmäler als Welterbe an, sondern auch Ideen, Bewegungen und Konzepte, zum Beispiel den Flamenco oder die französische Küche.“

Seien wir ehrlich: Geht es nicht auch um PR?

Jimmy Wales: „Das ist etwas zu viel gesagt. Aber keine Frage: Es geht darum, der Öffentlichkeit zu zeigen, dass Wikipedia nicht einfach eine Website ist, sondern ein kulturelles Phänomen.“

Gegen die Encycopaedia Britannica und den Brockhaus hat Wikipedia gewonnen. Was kommt jetzt?

„Auf Englisch, Deutsch und Französisch gibt es jeweils mehr als eine Millionen Artikel, in mehreren anderen Sprachversionen mehr als 500 000. Aber auf Hindi gibt es nur rund 60 000, obwohl es mehr als 280 Millionen Leute sprechen. Wenn ich an die Zukunft der Wikipedia denke, denke ich an die nächste Milliarde Menschen, die ins Internet gehen. Wir eröffnen dieses Jahr ein Büro in Indien, um beim Aufbau der Community zu helfen.“

In Ländern wie den USA oder Deutschland, wo Wikipedia etabliert ist, stagniert oder sinkt die Zahl der freiwilligen Mitarbeiter jedoch. Woran liegt das?

„Das ist zum Teil eine natürliche Entwicklung. Es gab eine Zeit, als man in der deutschen Wikipedia einen Artikel über Afrika anlegen konnte, der nur aus dem Satz bestand: "Afrika ist ein Kontinent." Da war es einfach mitzuarbeiten. Aber da Wikipedia sich immer weiter entwickelt, kann man weniger Artikel neu anlegen, man braucht Spezialwissen.“

Gerade Anfänger sind schnell abgeschreckt, wenn sie versuchen, bei Wikipedia mitzuarbeiten.

„Die Technik ist für viele noch zu kompliziert. Wir arbeiten stetig an der Software. Aber Wikipedia ist schneller gewachsen, als die Ressourcen es eigentlich zugelassen hätten. Viele Dinge, die eine normale Internet-Firma tut, konnten wir erst in den letzten Jahren anfangen. Wer vor zwei Jahren versucht hat, ein Bild hochzuladen, ist fast in Tränen ausgebrochen, weil es so kompliziert war. Bis 2015 soll die Benutzeroberfläche gründlich überarbeitet werden.“

Frauen machen nur sehr selten mit.

„Wir brauchen mehr Vielfalt unter den Wikipedia-Autoren. Zu allen Themen, die 26-jährige, männliche Programmierer interessieren, gibt es lange Artikel, während andere Bereiche des Lebens nicht so gut repräsentiert sind. Wir versuchen Nutzern zu vermitteln: Wikipedia ist nicht nur für Technik-Freaks da, die über Betriebssysteme schreiben, sondern auch für Dich. Mehr Frauen würden auch der Diskussionskultur gut tun. Es ist eine einfache Regel: Wenn Frauen dabei sind, benehmen sich Männer besser.“

Einige Websites wollen damit Geld verdienen, indem sie einfach Artikel aus der Wikipedia kopieren und daneben Werbung schalten. Stört Sie das nicht?

„Anfangs hat es genervt, dass einige gespiegelte Websites bei Google höher standen als das Original. Aber Google hat das jetzt gut im Griff. Wenn Leute damit Geld verdienen, sollten sie etwas spenden, finde ich. Aber ich glaube, keiner verdient damit besonders. Erlaubt ist es allemal: Die Lizenz, unter der die Wikipedia-Artikel stehen, soll den Zugang zu Wissen fördern. Ich fände es toll, wenn Leute eine Auswahl von Artikeln nähmen und zu niedrigen Kosten als Buch drucken und dort in Indien verkaufen würden, wo die Menschen keinen Computer haben.“

Bisher verzichtet Wikipedia auf Werbeeinnahmen. Würde das nicht helfen, die Entwicklung voranzutreiben?

„Das ist eine nie endende Diskussion. Für mich ist Wikipedia nicht irgendeine Website, sondern so etwas wie eine Bibliothek, Kirche oder Schule: ein nicht-kommerzieller Raum. Das ist nicht der richtige Ort für Werbung. Die Nutzer wissen, dass die Werbetreibenden nicht die Inhalte diktieren. Wer wir sind und für was wir stehen, würde sich radikal verändern, wenn wir auf Werbung setzen würden.“

Sie sind viel unterwegs. Schaffen Sie es noch, Artikel zu bearbeiten?

„Fast jeden Tag! Ich bin sehr aktiv in der englischsprachigen Community und beteilige mich vor allem an Diskussionen über die Regeln für Autoren. Ich schreibe aber auch nur zum Spaß. Mein Fachgebiet ist das britische House of Lords. Und als bei der Prinzenhochzeit in England der Priester William und Kate zu Mann und Frau erklärte, war ich derjenige, der den Artikel über sie verschob - von "Kate Middleton" nach "Catherine, Duchess of Cambridge".“