London/Brüssel. Ist der Kompromiss ein Relikt?

London/Brüssel. · Brexit, US-Haushaltsstreit, Bürgerwut: Überall tun sich tiefe Gräben auf. Aber kann die Demokratie ohne Kompromisse überleben? Ein Blick auf die Konflikte dieser Woche. Und auf Auswege.

Kompromissunfähig? Labour-Chef Corbyn (vorne) und ihm gegenübersitzend  Premieministerin May.

Foto: dpa/Jessica Taylor

Es war Tag 58 vor dem Brexit, da traf die britische Premierministerin Theresa May diese Woche tatsächlich Oppositionsführer Jeremy Corbyn zu einem Gespräch. 45 Minuten lang redete man ernsthaft und engagiert, wie es anschließend hieß. Dann ging man auseinander und entzweite sich sogleich darüber, ob sich die Standpunkte im epochalen Streit über den britischen EU-Austritt womöglich angenähert haben könnten. Keinesfalls habe sie ihre Position aufgeweicht, ließ May umgehend klarstellen.

Es sind nicht gerade goldene Zeiten für die Kunst des Kompromisses. In Großbritannien nicht, wo sich die älteste europäische Demokratie in eine quälende Selbstblockade manövriert hat. Aber auch nicht in den USA, wo die Atempause nach fünf zähen Wochen des Haushaltsstreits sofort zur Niederlage für Präsident Donald Trump gemünzt wurde. Das Gegenmodell präsentierte diese Woche ausgerechnet die deutsche Kohlekommission, die sich nach einer schier endlosen Nachtsitzung in einer politischen Generationenfrage zum Konsens durchrang.

Wenn du nicht mehr weiter weißt, gründe einen Arbeitskreis: Das klingt nach Vertagung, Verwässerung, ja Arbeitsverweigerung der zuständigen Politiker. Aber mit Blick nach London, nach Washington, auf die Gräben zwischen Kongress und Weißem Haus: Hätte man nicht besser längst einen Runden Tisch einberufen, einen Konvent, einen Vermittlungsausschuss, Allparteiengespräche? Geht es ohne Kompromisse in einer Demokratie?

Ohne Konsens kein Mittagessen

Nein, referierte diese Woche recht plastisch Bundeskanzlerin Angela Merkel. Das fange mit der „Planung der Wochenendgestaltung einer durchschnittlichen Familie“ an, sagte die CDU-Politikerin bei der Annahme des Fulbright-Preises in Berlin. „Ohne Kompromiss kommt auch nie ein Gericht auf den Mittagstisch.“ Nur wer allein leben wolle, müsse keine Kompromisse eingehen, „sofern er nicht schizophren ist. Aber sobald er mit jemandem zusammenleben will, muss man Kompromisse machen.“

In der Politik sei dies oft mühsam, gerade auf europäischer Ebene. „Natürlich ist Europa auch oft umständlich“, sagte Merkel, die die bisweilen knallharten Interessengegensätze der 28 EU-Staaten seit 2005 kennt. „Ich habe genügend Nächte damit verbracht und versucht, Verhandlungsergebnisse zu erzielen.“ Immer wieder sei das gelungen, betonte die Regierungschefin.

Immer wieder sind die mit feinem Schleifpapier polierten Floskeln der Brüsseler Gipfelpapiere allerdings auch wirkungslos. So etwa der als große Wurf verkaufte Beschluss zur Migrationspolitik im vergangenen Sommer, der – im Nachhinein betrachtet – zu überhaupt nichts führte. Tatsächlich tritt die EU bei der Asylfrage seit Jahren schon und absehbar auch weiter auf der Stelle.

Oft dauern Einigungen der 28 EU-Staaten so elend lang, dass mancher darüber die Geduld verliert. Schnellere Entscheidungen, mehr konkrete Ergebnisse, verlangte erst am Donnerstag der finnische Regierungschef Juha Sipilä im Europaparlament: „Ich kann nicht genug unterstreichen, wie wichtig es ist, Dinge wirklich zu erledigen.“ Es klang wie ein Stoßseufzer.

Der Ruch von falscher Harmonie

Die Suche nach Einigkeit ist eben nicht nur langwierig, sie hat auch oft den Ruch von falscher Harmonie und faulem Kompromiss. Merkels Mittigkeit, die deutsche Dauer-Groko, die „Konsensrepublik“ – all das wurde auch viel kritisiert und für die wachsende Wut an politischen Rändern verantwortlich gemacht. In einer nun auch in Deutschland zerfledderten Parteienlandschaft ist der Konsens zudem gar nicht mehr so groß, wie die schwierige Regierungsbildung 2017 zeigte.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sah sich genötigt, auch in der Bundespolitik für mehr Gemeinsamkeit zu werben. „Der Kompromiss hatte in Deutschland noch nie einen guten Leumund“, befand der CDU-Politiker 2017 in der „Welt“. „Anders als in angelsächsischen Ländern. Hier hat der harmonische Ausgleich der Interessen bis heute einen guten Klang.“

Wer die britischen Brexit-Scharmützel sieht, mag daran allerdings Zweifel hegen. Tatsächlich ist die britische Politiktradition von jeher weniger konsensorientiert als in Kontinentaleuropa. Ein faktisches Zwei-Parteien-System sorgte dafür, dass entweder die eine oder die andere Seite die Oberhand behielt und sich mit ihrer Politik durchsetzen konnte. Als 2010 der Konservative David Cameron eine Koalition mit den britischen Liberaldemokraten einging, galt das als höchst problematisch. Es war die erste Koalitionsregierung seit dem Zweiten Weltkrieg.

Die Abgeordneten im britischen Parlament sind allesamt mit einem Direktmandat gewählt. Dabei gilt die Formel „first past the post“ - der Kandidat mit den meisten Stimmen bekommt den Posten. Die Stimmen der Wähler, deren Kandidat sich nicht durchsetzen konnte, sind also einfach nicht vertreten – anders als in Deutschland, wo auch die Zweitstimme in die Verteilung der Parlamentssitze einfließt.

Einfach nicht „unser Stil“

Und dieses first-past-the-post-System spiegelt sich auch im Brexit-Streit. Die Volksabstimmung über den EU-Austritt gewannen die Befürworter 2016 äußert knapp mit 52 zu 48 Prozent. Doch gilt das Ergebnis nun oft als einzig legitimer Ausdruck des Volkswillens, während fast die Hälfte der britischen Wähler in die Röhre guckt. In der seit Jahren extrem polarisierten Innenpolitik gibt es kaum Brücken über den großen Graben zwischen Konservativen und Labour.

Konsenspolitik sei „einfach nicht unser Stil“, sagt dazu der Politikwissenschaftler Anand Menon vom King‘s College in London. Doch die Lage habe sich in den vergangenen Jahren erheblich verschärft. Gründe dafür seien neben der ideologischen Polarisierung in der Brexit-Debatte und dem Fehlen klarer Mehrheiten im Parlament auch die Führungspersönlichkeiten der beiden großen Parteien.

Bei Labour gibt inzwischen die äußerste Linke den Ton an, die ihren Chef Jeremy Corbyn wie einen Rockstar feiert. Von konservativer Seite wird er dagegen regelmäßig als größte Gefahr für das Wohl des Landes dargestellt – schlimmer noch als ein EU-Austritt ohne Abkommen.

Mit Theresa May hat bei den Konservativen eine Politikerin die Führung, die auf einsame Entscheidungen im engsten Kreis ihrer Berater setzt, statt auszuloten, womit sie im Parlament eine Mehrheit finden könnte. Getrieben ist sie von harten Brexit-Befürwortern, die im Zuge des Referendums bei den Tories zur einflussreichsten Gruppe wurden. Eine einst radikale Minderheit sagt an.

Ist das die Zukunft auch für Deutschland, wo die ehemaligen Volksparteien Union und SPD heute zusammen in Umfragen keine Mehrheit haben und kleine Parteien mächtig werden? Oder für die EU, wo Populisten auf eine Blockademacht nach der Europawahl im Mai hoffen? Die Briten, in Brüssel seit Jahrzehnten schon Grillmeister dicker Extrawürste, sind dann – vielleicht – ausgetreten. Aber die Kunst des Kompromisses wird gefragter sein denn je.