Atemlos: Zeruya Shalevs Eheroman
Frankfurt/Main (dpa) - Zwei Familien in der Krise und eine dritte, die dadurch wieder zueinanderfindet: Die Ehen von Dina und Avner zerfallen, aber die beiden Geschwister und ihre sterbende Mutter nähern sich wieder an.
Das ist im Kern die Handlung von Zeruya Shalevs viertem Roman, in dem es wie in den Vorgängern um moderne Beziehungen geht. Aber die Inhaltsangabe beschreibt „Für den Rest des Lebens“ ebenso wenig wie die Nacherzählung eines französischen Films.
Das liegt zum einen an dem ganz speziellen Ton, der die Romane Shalevs über andere Texte stellt, die im weitesten Sinne als Beziehungsgeschichten bezeichnet werden können. Bandwurmartige Sätze gibt es zuhauf auf diesen 521 Seiten, manche eine halbe Seite lang. Und doch sind sie nicht schwer zu lesen, da es keine verschachtelten Nebensatzkonstruktionen sind, sondern simple Reihungen. Dadurch ensteht eine atemlose Sprache, die dem stream of consciousness entlehnt ist - und die innere Unruhe, das ständige Räsonieren, neu Bewerten, Verwerfen und Infragestellen der Romanfiguren abbildet.
Zum anderen gelingt es der israelischen Autorin wie kaum einer Schriftstellerin ihrer Generation, Gefühle unters Mikroskop zu legen. Mit nahezu wissenschaftlicher Präzision beobachtet, analysiert und seziert sie ihre Figuren - und präpariert deren Emotionen statt hinter Glas zwischen Buchdeckeln.
Es sind nicht die selben Personen wie in „Liebesleben“, „Mann und Frau“ oder „Späte Familie“, aber sie könnten es sein, in einer späteren Lebensphase. Inzwischen sind die Protagonisten Mitte 40 und ordnen ihre Verhältnisse im Bewusstsein, dass sie nun die Weichen stellen „Für den Rest ihres Lebens“. „Was für ein unangenehmes Alter, fünfundvierzig.“
Im Gegensatz zu den früheren Romanen kommen diesmal mehrere Personen gleichberechtigt zu Wort, die Geschwister Dina und Avner und ihre Mutter. Dina leidet darunter, dass ihre pubertierende Tochter und ihr distanzierter Mann sich von ihr entfernen. Sie fühlt sich ihres einzigen Lebensinhalts beraubt und will nach den Wechseljahren ein Kind adoptieren. Mann und Tochter protestieren: Wenn Du das durchziehst, ziehen wir aus. Dinas innigster Wunsch, die Familie zu erhalten, droht diese zu zerstören.
Avner und Schlomit befehden sich seit Jahren, Leidtragende sind die beiden Söhne. Tagsüber ist Avner ein angesehener Rechtsanwalt für Menschenrechte, zu Hause der Buhmann, der nichts richtig macht. Als er zufällig ein Paar beobachtet, das innige Verbundenheit ausstrahlt, obwohl der Mann dem Tod geweiht ist, fasst er den Beschluss, sein Leben zu ändern. Wie Dina sich in den Adoptionsgedanken verrennt, sucht er nach der liebenden fremden Frau, um ihr die Liebe zu schenken, die er selbst nie empfangen hat.
Dritte Hauptperson, deren inneren Monolog der Leser belauscht, ist die sterbende Mutter. Sie hat Dina zu wenig und Avner zu viel geliebt und damit beider Liebesfähigkeit beschädigt. Auch sie steckte lebenslang im falschen Leben fest. Erst im Tod gelingt es ihr - wenn auch nur in der Fantasie -, das leere Heft zu füllen, in dem sie all die Geschichten aufschreiben wollte, die sie in sich trug, die aber nie jemand in ihrer Familie hören wollte.
Die emotionalen Belastungen der Protagonisten erscheinen deshalb so wahrhaftig und so eindringlich, weil sie die Widersprüchlichkeit der Gefühle bewahren. Das wirkt manchmal manieriert, zum Beispiel wenn von blendender Traurigkeit eines Toten die Rede ist. Meist aber ist die Unbestimmtheit sehr kunstvoll beschrieben. Ein prosaischeres Gemüt würde sagen: Avner überlegt, zu seiner Frau zurückzukehren, lässt es dann aber doch bleiben. Shalev schreibt, „dass sich in diesem Fast, in diesem Spalt, so schmal wie der Spalt zwischen einer Tat und einer Nicht-Tat, sein ganzes Leben zusammenpresste“.
„In unserem Alter gibt es keine leichten Entscheidungen mehr, der Preis wird immer höher“, ist einer der Schlüsselsätze dieses Buches, ein anderer lautet „im familiären Krieg wirst Du nicht von dem bestraft, den Du verletzt hast, sondern von dem, den du am meisten liebst“.
Zeruya Shalev
Für den Rest des Lebens
Berlin Verlag
521 Seiten, 22,90 Euro
ISBN 978-3-82070-0989-0