Bei Stephen King ist die Wirklichkeit das wahre Grauen
In „Doctor Sleep“ schwingt der Autor den Horror-Hammer und erzählt klug und spannend die Fortsetzung seines Klassikers „Shining“.
Düsseldorf. Filmriss. Nicht der erste. Dan wird auf einer schäbigen Matratze wach. Neben ihm schnarcht eine nackte Frau. Sie ist gerade übers Teenageralter hinaus, aber die Ansätze von Bierbauch und Doppelkinn sind im gnadenlosen Morgenlicht unverkennbar. Erst langsam dämmert Dan die Erinnerung an einen durchsoffenen Kneipenabend. Er schnappt sich die letzten Dollar der Schlafenden und macht sich mit brummendem Schädel davon.
Dan ist kein schlechter Mensch. Dan ist aber auch kein strahlender Held. Dan ist Alkoholiker. Er ist vor allem die Hauptfigur in Stephen Kings neuem Roman „Doctor Sleep“. King erweist sich hier ein weiteres Mal als bildgewaltiger Erzähler. Nicht umsonst sind seine Werke wahrscheinlich die meistverfilmten der vergangenen 50 Jahre. Er zeigt aber auch wiederum, dass er mit knappen Worten und wenigen Sätzen Charaktere und Milieus lebendig und glaubhaft vor das innere Auge zaubern kann.
Aber natürlich schwingt King den großen Horrorhammer. Insofern reiht sich „Doctor Sleep“ nahtlos in die rund 40 Romane des 1947 in Neuengland geborenen Autors ein. Aber nur fast. Der Roman hat zwei Besonderheiten. Die eine ist, dass King viel von sich selbst preisgibt. Der König des Horrorromans hat wie seine Hauptfigur eine Alkoholiker-Karriere hinter sich. Deshalb gehören die Schilderungen des versoffenen Dan zum Authentischsten, was King geschrieben hat. „Er leerte die Flasche mit vier langen Zügen. Der Schnaps war der Schwamm.“
Die zweite Besonderheit ist, dass Stephen King eine Fortsetzung vorlegt. „Es war Hallorann gewesen, der ihn und seine Eltern am ersten Tag durch das Overlook geführt hatte. Das schien ewig her.“ Das „ewig her“ bedeutet rund dreieinhalb Jahrzehnte. 1976 erschien Kings Roman „Shining“. Die Geschichte des Schriftstellers John Torrance, der als Hausmeister das winterlich geschlossene Overlook-Hotel in Colorado betreuen soll — und dort durchdreht.
„Ich wurde immer wieder gefragt, was eigentlich aus Danny, dem kleinen Jungen in ,Shining‘, geworden sei“, so Stephen King. Die Frage geisterte lange in seinem Kopf herum. Nun ist Dan Torrance, der als Fünfjähriger nur knapp seinem besessenen Vater entkam, wieder da. Gegen seinen Alkoholismus kämpfend, zieht Dan als Altenpfleger durchs Land.
Aber Dan hat immer noch die Gabe des „Shining“, eine Mischung aus Hell- und Geisterseherei. Dass er den Todkranken im Hospiz damit das Sterben erleichtern kann, bringt ihm den Spitznamen „Doctor Sleep“ ein. Dan nutzt sein ungewöhnliches Talent aber auch, um ein Mädchen vor einer mörderischen Sekte zu schützen. In diesem seltsamen Verein finden sich biedere, unscheinbare Leute zusammen — die allerdings unsterblich sind, weil sie sich vom letzten Lebenshauch jener Menschen ernähren, die das „Shining“ besitzen.
Es geht aber nicht nur darum, dass ein versoffener Pfleger den Kampf gegen eine Quasi-Vampir-Bande aufnimmt. King strebt, wie fast immer, nach Selbstfindung. Der Horror aus dem Geisterreich ist nur eine Maske, hinter der sich das Grauen der Realität verbirgt.
“ Stephen King: „Doctor Sleep“, Heyne, 704 Seiten, 22,99 Euro