Grimms Märchen - nicht jugendfrei!
Frankfurt/Main (dpa) - Kinder lieben sie, aber eigentlich waren sie nur für Erwachsene gedacht: Die Erstausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm hat 2012 ihren 200. Geburtstag. Hinter den Erzählungen steckt oft mehr als eine Kindergeschichte - zuweilen gar Erotisches.
Heiße Liebesnächte im Rapunzel-Turm? Der lüsterne Verführer vor der Tür der sieben Geißlein? Oder die Gefahr der vorzeitigen Entjungferung im Bett der Großmutter? Für den Germanisten und Direktor des Instituts für Jugendbuchforschung an der Frankfurter Goethe-Universität, Hans-Heino Ewers, stecken in den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mehr als nur schöne Geschichten. Er wolle sie wieder für erwachsene Leser interessant machen, sagte Ewers im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa. Am 22. Januar wird in Kassel das Grimm-Museum nach längerer Sanierung neu eröffnet.
Bis zu den Grimms sind Märchen laut Ewers alles andere als Kinderlektüre gewesen: „Die Aufklärer des 18. Jahrhunderts wollten den Kindern nicht vorgaukeln, dass es Zauberei und Magie gibt. Außerdem waren Märchen eigentlich Liebes-, Heirats- und oft sehr drastische erotische Geschichten. Und das hatte bei Kindern nichts zu suchen. Dann kamen die Grimms auf den Gedanken, Märchen seien die ideale Kinderlektüre. Alle griffen sich an den Kopf: "Jetzt sind sie übergeschnappt."“
Dass die „Kinder- und Hausmärchen“ heutzutage dennoch vor allem in den Kindergärten und Grundschulen anzutreffen sind, lasse sich auch auf die Grimms zurückführen: Nachdem einer ihrer Dichterfreunde sie darauf hinwies, dass ihre Storys überhaupt nicht kindgerecht seien, hätten sie bis 1819 die Märchen überarbeitet. Sie unterdrückten die Liebesthematik und machten aus Heiratsgeschichten in der zweiten Auflage Kinderfreundschaftsgeschichten.
Das treibt zuweilen seltsame Blüten: „Am witzigsten ist das bei "Rapunzel". Das Mädchen ist am Ende schwanger und kriegt Zwillinge, aber man ahnt im ganzen Text nicht, wie das kommt. In der ersten Auflage der "Kinder- und Hausmärchen" sind die Liebesnächte im Turm noch angedeutet“, sagt Ewers.
Nach seiner Schätzung sind ein Viertel bis ein Drittel der rund 200 Texte in der Sammlung Märchen. Der Rest sind Schwänke von der Art des „Tapferen Schneiderleins“. Die Märchen erkenne man aber immer an der Liebes- und Heiratsthematik: „Auch "Rotkäppchen" ist ein Liebesabenteuer. Das ist eine sogenannte Tierbräutigamsgeschichte. Rotkäppchen soll sich nicht von irgendeinem jungen Schürzenjäger vorzeitig entjungfern lassen. Bei "Der Wolf und die sieben Geißlein" repräsentiert der Wolf auch den männlichen Verführer, vor dem die Geißenmutter ihre Töchter schützen will.“
Im Mittelpunkt der Märchen steht aber laut Ewers nicht etwa ihre Lehre: „Sie sollen in erster Linie unterhalten - Geschichten werden erzählt. Aber wir müssen die Märchen aus der Kindergarten- und Grundschulecke wieder herausholen. Das ist leider ein gesellschaftliches Vorurteil. Märchen sollen zwar in den Kinderstuben bleiben, aber auch die Älteren sollen sie als das entdecken, was sie immer gewesen sind: Erzählungen für Erwachsene.“
Gespräch: Sebastian Fischer, dpa