Günter Grass rechnet mit Christa-Wolf-Kritikern ab

Berlin (dpa) - Für eine so ungewöhnliche Frau muss wohl auch die Trauerfeier ungewöhnlich sein.

Günter Grass nutzt den Abschied von Christa Wolf am Dienstagabend in der Berliner Akademie der Künste für eine Generalabrechnung mit ihren westdeutschen Kritikern. Und ruft damit den erbitterten „Literaturstreit“ wieder wach, der vor mehr als20 Jahren für Verletzungen auf allen Seiten sorgte.

Nach dem Fall der Mauer, so Grass in seiner leidenschaftlichen Anklage, sei Christa Wolf im Westen behandelt worden, „als wollte man eine öffentliche Hinrichtung zelebrieren“. „Was ihr im eigenen, trotz allem geliebten Land von Staats wegen zugefügt worden war, wurde nun in ähnlicher Praxis fortgesetzt, sozusagen gesamtdeutsch und unterm Schutzschild "Meinungsfreiheit"“, sagt der zornige alte Mann, „Verleumdungen, verfälschte Zitate, der immer wieder versuchte Rufmord.“

Sehr still ist es in dem voll besetzten Saal. Keine Blume, kein Schmuck. Nur ein großes Foto von Christa Wolf hängt über der Bühne, mit ihren immer wachen, fragenden Augen. Grass erinnert an die Zeit, als 1990 ihr Buch „Was bleibt“ erschien - ein Bericht, wie sie und ihre Familie von der Stasi überwacht wurden.

Die führenden Blätter „Zeit“ und „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ hätten Wolf damals vorgeworfen, sie sei zu „feige“ gewesen, das schon zehn Jahre zuvor entstandene Buch noch in der DDR zu veröffentlichen, erinnerte der heute 84-Jährige. „So schäbig ging es im Jahr der deutschen Einheit zu.“

Warum verharrt Grass „im Morast des Veröffentlichungsjahres“, so fragt er selbst. Aber an diesem Abend bleibt es eine rhetorische Frage. Die FAZ will sich am Tag danach zu den Vorwürfen des Literaturnobelpreisträgers nicht weiter äußern. „Das spricht für sich“, sagte Feuilletonchef Patrick Bahners der Nachrichtenagentur dpa.

Und der von Grass direkt angesprochene frühere Feuilletonchef der „Zeit“, Ulrich Greiner, nannte den Vorwurf einer Kampagne haltlos. In seinem Blatt habe es zu der Wolf-Erzählung einen Pro- und einen Kontra-Artikel gegeben. Bei diesem Format sei es üblich, jeweils nur die positiven beziehungsweise die negativen Argumente zu bringen.

Bei der Gedenkfeier am Abend, einem großen „Familientreffen“ von Wegbegleitern, Freunden und Lesern erinnern auch andere an Verletzungen, die Wolf diesseits und jenseits der Mauer erlebte. „Kampf und Verleumdung, Geifer und Schmutz, eben das, was beschönigend Literaturstreit genannt wurde - sie hat darunter schrecklich gelitten“, sagt etwa Verlegerin Maria Sommer. Und der frühere DDR-Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer erklärt: „Sie hat niemanden verraten, auch sich nicht. Die Hechelmeute schere sich davon.“

Dazwischen wird aber auch deutlich, welch ein offener, zugewandter und manchmal auch einfach fröhlicher Mensch Christa Wolf war. Auf Autofahrten mit Freundinnen sang sie das gesamte deutsche Liedgut durch („und sie kannte jede Strophe“), selbst bei Arbeitstreffen erkundigte sie sich erst lange nach Gesundheit, Familie und Wohlergehen ihres Gegenübers. Doch dann kam auch immer wieder das Schwere durch. Ihrem französischen Übersetzer Alain Lance, so berichtet dieser, vertraute sie einmal an: „Ich dachte, wenn ich mal draußen bin, werde ich aufatmen, aber immer habe ich die ganze DDR auf dem Buckel.“

Besonders anrührend in dem Abschiedsreigen sind die Worte von Suhrkamp Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz, die sich manchmal mit Wolf „davongemacht“ hat aus den alltäglichen Zusammenhängen. „Als ich sie das letzte Mal sah, hatte sie schon aufgehört zu atmen“, sagt Ulla Unseld mit ihrer warmen Schauspielerstimme. „Wie stark und stolz sie aussah! Wie eine, die ihre Arbeit getan hat. Feierabend.“