Literatur Hosseinis poetische Reaktion auf die täglichen Dramen im Mittelmeer
Düsseldorf · Drei Jahre nach dem Tod des kleinen Alan Kurdi gibt der Bestsellerautor einem Flüchtlingsvater in einem illustrierten Büchlein eine Stimme.
Für einen kleinen, flüchtigen Moment könnte man je nach Perspektive noch glauben, er schliefe nur. Alan Kurdi liegt bäuchlings auf dem nassen Sand nahe der türkischen Stadt Bodrum, die Beinchen leicht angewinkelt, die Kinderarme seitlich am Körper liegend. Der Kopf wird vom Schaum der auslaufenden Wellen umspült — und spätestens jetzt wird klar: Alan ist tot. Wem es beim Anblick eines der Fotos der türkischen Agenturfotografin Nilüfer Demir nicht das Herz zerreißt, der hat keines mehr.
Gerade drei Jahre war der syrische Junge alt, als sein Leichnam an Land gespült wurde. Und an diesem Sonntag sind seit jenem Tag noch einmal drei Jahre vergangen. Nach deutschen Maßstäben wäre Alan jetzt ein Erstklässler. Die Fotos von ihm galten vielen damals als geradezu ikonisch, Sinnbild für das Drama der Flüchtlinge, die auf dem Weg über das Mittelmeer Leib und Leben riskieren. Andere, so auch diese Zeitung, lehnten einen Abdruck mit Hinweis auf den Pressekodex und die Achtung der Menschenwürde ab. „Wir werden uns nicht daran beteiligen, Emotionen durch Bilder zu schüren, die menschlich zutiefst verstörend und zum Verständnis der Nachrichten unnötig sind“, schrieb Chefredakteur Ulli Tückmantel damals.
Auch Khalded Hosseini, Autor der Weltbestseller „Drachenläufer“, „Tausend strahlende Sonnen“ und „Traumsammler“, hat das Foto über die Jahre nicht losgelassen. In dieser Woche hat er seine Art der Auseinandersetzung vorgelegt. Ein gerade 48-seitiges Büchlein ist es geworden, nur ganz wenig Text, dafür viele eindrückliche Illustrationen des Briten Dan Williams, der sonst den „Guardian“, „National Geographic“, „Rolling Stone“ und das „Wall Street Journal“ zu seinen Auftraggebern zählt.
Und Hosseinis zeitverzögerte Reaktion ist so zart, unaufdringlich und poetisch, dass man angesichts all der heiseren Brüllerei zu Flüchtlingsfragen jubeln möchte, wäre das Thema nicht ein so tragisches. Der Schriftsteller, der einst selbst ein Flüchtlingsjunge war, dem die sowjetische Invasion die Rückkehr in seine Heimatstadt Kabul verbaute, löst sich von Alans tragischem Schicksal und hält sich ganz von allen dramatisierenden Taschenspielertricks fern. Gerade deshalb klingen die wenigen Zeilen so nach. Hosseini lässt einen syrischen Vater an seinen Sohn Marwan schreiben — in der Nacht vor der Flucht über das Meer. Vielleicht ist es ein Brief, vielleicht aber auch eher ein Gebet. Im Original heißt das Buch „Sea Prayer“ (Meeresgebet).
Der Vater beschwört eine friedliche Vergangenheit vor den Toren der syrischen Stadt Homs. „Aber dieses Leben, diese Zeit, kommen inzwischen sogar mir wie ein Trugbild vor, wie ein längst verstummtes Gerücht.“ Er bereitet seinen Sohn auf die bevorstehende Gefahr vor. Und er gesteht: „Du vertraust deinem Vater, und das bringt ihn fast um. Denn heute Nacht kann ich nur daran denken, wie tief das Meer ist, wie riesig, wie teilnahmslos. Und dass ich dich davor nicht beschützen kann.“
Dann beginnt die Fahrt mit der kostbarsten Fracht, die es jemals gab. „Das soll das Meer wissen, dafür bete ich, Inshallah. Oh, wie sehr ich bete, dass das Meer das weiß.“ Der Rest ist Fantasie, Ahnung, Einfühlungsvermögen.
Das Buch ist den Tausenden Toten im Mittelmeer gewidmet. Die Autorenerlöse fließen an Hosseinis eigene Stiftung, die sich für bessere Wohnverhältnisse von Flüchtlingen engagiert, und den UNHCR, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen.