Jan Brandts monumentaler Provinz-Roman

Leer (dpa) - Im Dorf kennt man sich - und das meist seit Generationen. Man trifft sich beim Bäcker, im Supermarkt oder beim Skat. Das Dorf ist überall. Eine verschworene Gemeinschaft, aus der es kein Entrinnen gibt.

Das Dorf begleitet einen ein Leben lang, selbst wenn man wegzieht. So wie Jan Brandt.

Seit vielen Jahren lebt der Autor bereits in Berlin, mitten in Kreuzberg. Inspiration fand er jedoch ausgerechnet auf dem Dorf in seiner ostfriesischen Heimat. Mehr als zehn Jahre arbeitete Brandt an seinem Debütroman „Gegen die Welt“, entwickelte einen ganzen Mikrokosmos rund um das fiktive Jericho. Ein Ort, der - wie der Name schon erahnen lässt -, genauso wie sein trauriger Held Daniel Kuper dem Untergang geweiht ist.

Brandt weiß genau, wovon er schreibt. Aufgewachsen ist er in Ihrhove, einem Kaff wenige Kilometer entfernt von Leer. In der Kreisstadt hat er später das Gymnasium besucht, hat in der Fußgängerzone abgehangen oder ist mit Freunden in das einzige Kino gegangen. „Ich musste erst in einer großen Stadt leben, um das Dorf schätzen zu lernen“, sagt er heute.

Seit Jahren ist Brandt nicht mehr durch die Fußgängerzone von Leer geschlendert. Mit seinen roten Chucks, der Casio-Armbanduhr und der dunklen Hornbrille wirkt er so jungenhaft, als wäre er nie weggewesen. Beiläufig grüßt der 36-Jährige einen alten Bekannten aus dem Fußballclub, der bei der Bank arbeitet. Gegenüber in der Buchhandlung Schuster steht jetzt Brandts Erstling bei den Neuerscheinungen, zwischen Jonathan Franzen und Håkan Nesser.

Die Umgebung ist vertraut, dennoch wirkt der Schriftsteller irgendwie fremd in der eigenen Heimat. Gerade wurde er für die Shortlist des Deutschen Buchpreises nominiert, ist also unter den sechs Finalisten. „Ich hab' mich schon wahnsinnig darüber gefreut.“ Aber so richtig glauben kann er es noch immer nicht. „Ich bin da ganz klar der Außenseiter.“ War er schon immer.

Statt Heavy Metal hörte er zu Schulzeiten lieber Emerson, Lake & Palmer und andere Rock-Klassiker der 70er Jahre. Sein ganzes Taschengeld gab er für Bücher aus, verschlang Thomas Mann, Karl May, die französischen Existenzialisten Jean-Paul Sartre und Albert Camus. „Weshalb ich im Deutschunterricht sofort als seltsam aufgefallen bin“, sagt Brandt mit einem Grinsen.

Auch sein Romanheld Daniel Kuper gehört nirgendwo so richtig dazu. Er ist der klassische Verlierer, der durchgeknallte UFO-Junge, das Opfer, der Sündenbock. Der fiese Schulrowdy hat es auf ihn abgesehen, die Klassenlehrerin sowieso. Er bringt den Pastor gegen sich auf, den einflussreichen Bauunternehmer, schließlich das ganze Dorf. Sogar seine drei Freunde, Freaks wie er, wenden sich von ihm ab.

Nach und nach zerfällt die dörfliche Idylle, und es offenbart sich eine grausame Welt. Daniel und seine Schulkameraden erleben latente Gewalt, kaputte Ehen, zerstörte Träume und eine Ausweglosigkeit, die am Ende zwei von ihnen in den Selbstmord treibt. Sachlich, distanziert und geradezu detailversessen (der Autor nennt das auf seiner Homepage „manischen Realismus“) schildert Brandt, wie seine Protagonisten ins Verderben rennen.

„Mir geht es darum, wie sich die Solidarität in dem Dorf aufzulösen beginnt“, erläutert der Autor. „Alles ist plötzlich so festgefahren. Alle versuchen sich zu befreien, aber es gelingt ihnen nicht.“ Dabei spielt Brandt nicht nur mit verschiedenen Zeitebenen und Erzählperspektiven, sondern auch mit der Typographie.

Als Daniel später im Buch immer wieder die Sinne schwinden, verblasst auch die Schrift. Die Eisenbahnlinie, die das Dorf zerschneidet, teilt auch das Buch auf 155 Seiten und lässt zwei Geschichten parallel laufen, die sich an einer entscheidenden Stelle kreuzen. Diese Stilmittel hatte Brandt nicht von Anfang an geplant. Sie sind mit dem Text gewachsen, genauso wie seine Figuren.

Jericho und seine Bewohner beschäftigen den Autor schon seit vielen Jahren. So sehr, dass er zeitgleich an zwei Romanen arbeitete. Irgendwann musste er sich dann entscheiden und beendete „Gegen die Welt“. Sein zweites Buch soll von einem Auswanderer handeln, der Jericho verlässt und in die USA geht. Ob es wieder zehn Jahre dauert, bis es fertig ist? Darauf antwortet Brandt nur mit einem Achselzucken.

Jan Brandt

Gegen die Welt

DuMont Buchverlag, Köln

928 Seiten, 22,99 Euro

ISBN 978-3-8321-9628-8