Literatur: Geselligkeit unter Gleichen
Günter Grass bedichtet die Brüder Grimm und baut sich zum Abschied ein Denkmal als Zeus.
Düsseldorf. Es klingt unverhohlen nach Abschied. Von seinem "wahrscheinlich letzten Buch" schreibt Günter Grass. 82 Jahre ist der Nobelpreisträger alt, da rückt der Gedanke ans Ende bedrohlich nahe: "Jetzt aber steht er mir bevor. Nach ihm wird nichts sein (...). Auch lasse ich ungern von meiner Frau, den Töchtern, Söhnen, den Enkeln, dem konfusen Zeitgeschehen, meinen Vergnügungen, dem Achterbahnfahren und den Fußballergebnissen am Wochenende. Doch da mir, umringt von mehr und mehr Ungewißheiten, einzig der Tod gewiß ist, will ich ihn (...) als ungeladenen, aber unumgänglichen Gast empfangen und allenfalls mit der Bitte belästigen: Mach es kurz und schmerzlos." (Rechtschreibung nach Grass).
Sein gerade erschienenes Buch "Grimms Wörter" setzt jedoch ohnehin einen Schlusspunkt, denn es beschließt die autobiografische Trilogie des Schriftstellers. In "Beim Häuten der Zwiebel" blickte er auf seine Jugendjahre zurück. "Die Box" widmete sich der Familiengeschichte. Nun präsentiert er ein Dreifachporträt großer Schriftgelehrter - Grass und die Grimms.
Ein Grass tritt aber gewiss nicht leise ab. Jacob und Wilhelm Grimm liefern dafür nicht direkt den Stoff, denn sie führten ein recht geruhsames Leben zwischen Schreibtisch und Spaziergängen. Doch der Autor findet anderweitig genug Anlässe zum gewohnten Poltern über die allgemeine "Duckmäuserei".
Denn das Brüderpaar ist hervorgetreten als Teil der "Göttinger Sieben": So viele (respektive wenige) Professoren protestierten 1837 dagegen, dass der König von Hannover, Ernst August, die erst vier Jahre zuvor eingeführte relativ liberale Verfassung wieder abschaffte. Das kostete die Grimms ihre Ämter - und weil sie nun anderweitig ein Einkommen brauchten, machten sie sich überhaupt ans Wörterbuch.
Ihr aufrechter bürgerlicher Protest ist für Grass formaler und inhaltlicher Ausgangspunkt. So legt er seine "Liebeserklärung" ebenfalls wie ein Wörterbuch an. In den Kapiteln A bis F blättert er das Leben der Grimms auf, hat sich in der Korrespondenz und den Familienhistörchen kundig gemacht, vergisst auch die agile Hausfreundin Bettine von Arnim nicht. Sie hat ihnen oft beigestanden, erschien den Herren aber als Nervensäge, die sie lieber auf Distanz hielten.
Vor allem misst der Sprachzauberer Grass pro Kapitel das dazugehörige Wortfeld aus, lauscht Silbenklängen nach, fügt munter Modernismen wie Arbeitsamt und Fotoalbum ein. Vom selbst erzeugten Strom der Sprache lässt er sich halbseitenlang mitreißen - insbesondere diese Passagen sind in der von ihm selbst gelesenen Hörbuchversion ein Erlebnis. Doch die Schwelgerei im altmeisterlichen Duktus bleibt Selbstzweck und erschöpft sich bald.
Spielerisch wechselt Grass auch die zeitlichen Ebenen, gesellt sich zwanglos zu den Grimms und anderen großen Geistern, kommt beim Fabulieren über den Buchstaben B scheinbar wie von selbst aufs Berliner Ensemble, wo ihm während einer Aufführung die Brieftasche gestohlen wurde samt Foto seiner "schönbrüstigen Ute".
Die Parallel-Konstruktion der Biografien wirkt zunächst reizvoll, gerät aber in den weiteren Kapiteln zu K, U und Z aus der Balance - zu ausgiebig zitiert Grass seine eigenen Reden, Schriften und Briefe, seinen Protest gegen die DDR und gegen eine zu rasche Wiedervereinigung. Manche Passagen sind zum Jauchzen schön, über manch anderes Thema ist die Zeit hinweggegangen, etwa die Details einer Auseinandersetzung 1971 zwischen Grass und dem Münchner Dramaturgen Heinar Kipphardt über ein noch nicht einmal gedrucktes Programmheft.
So entwirft der Schriftsteller für sich das Denkmal eines Zeus, der vom hohen Olymp zornig seine Blitze schleudert. Da sitzt er komfortabel, weil er einmal mehr recht gehabt haben mag - aber auch ziemlich weit entfernt vom gemeinen Erdenmenschen.