Neuer Pamuk-Roman: Ein Land im Bürgerkrieg

Literatur: Nobelpreisträger Orhan Pamuk erzählt in „Das stille Haus“ ergreifend die Geschichte einer Istanbuler Familie.

Düsseldorf. "Ich habe die großen Ideen gründlich satt. Ich bin ihnen in meinem überpolitisierten Land viel zu sehr ausgesetzt gewesen. Literatur ist meine Reaktion darauf", kommentierte Orhan Pamuk seinen Roman "Schnee" (2004). Schon zuvor, in "Das stille Haus", das 1983 in der Türkei erschienen ist, hatte er sich mit dem blutigen türkischen Bürgerkrieg zwischen Rechten und Linken, angeführt von Süleyman Demirel (Nationale Front) und Bülent Ecevit (Republikaner), befasst. 35000 Menschen starben damals. Und auch Pamuks Roman fordert ein Opfer. Man legt ihn tief betroffen aus der Hand.

Bisher nur auf türkisch erschienen, kommt er am Montag auch auf Deutsch in den Handel. In 32 Kapiteln spricht je ein anderes Ich aus vier Generationen einer Istanbuler Familie. Im "Stillen Haus" lebt die 90-jährige verbitterte Großmutter Fatma, in deren Erinnerungen ihr verstorbener Mann, der Arzt Selahattin großmäulig das Wort führt. Sein Wahn - er arbeitete an einer 48-bändigen Enzyklopädie zur Aufklärung der Türken im Sinne Westeuropas - führte zur Strafversetzung in die Provinz. Fatma selber fürchtet, ihre Enkel könnten von ihrer monströsen Übeltat erfahren: Sie schlug die unehelichen Söhne Selahattins, Recep und Ismail, als Kleinkinder zu Krüppeln. Recep ist zwergwüchsig und, makaber genug, Diener Fatmas. Ismail hinkt, ist Losverkäufer und hat einen Sohn, Hasan.

Fatmas leiblicher Sohn Dogan scheiterte als Landrat und suchte wie sein Vater sein Heil im Raki. Dem gibt sich auch sein ältester Sohn Faruk, der "fette Säufer", hin. Man lernt ihn mit seinen Geschwistern Nilgün, einer Soziologie-Studentin mit Abscheu vor den Schlägertrupps der faschistoiden "nationalistischen Jugend", und den jüngsten Bruder Metin beim Sommer-Urlaub im "stillen Haus" nahe dem Meer kennen. Das Haus ist dunkel, alt, feucht und heruntergekommen; die Enkel würden es gern niederreißen und einen schicken Neubau mit lukrativen Appartments bauen lassen. Fatma weiß das - und hasst sie abgrundtief. Für sie ist wie für alle nichts als das eigene Streben, Denken und Fühlen ausschlaggebend.

Der Leser begegnet einer Jugend, wie sie aktueller nicht sein könnte: Metin will nur raus nach Amerika, um dort im Handumdrehen ein gemachter Mann zu sein. Auch Hasan, der nichts von seiner Blutsverwandtschaft mit Nilgün weiß und sich mit fatalem Ausgang in sie verliebt, hegt absurd-utopische Hoffnungen. Er fantasiert sich bei den mafios-kriminellen Jung-Türken eine Welt zurecht, in der die Studentin aus vermögendem Haus und er, der nicht einmal einen Schulabschluss hat, ein Leben teilen.

Doch kriminell sind auch die Abkömmlinge der Neureichen, die Speed und Alkohol brauchen oder einen Ferrari, um damit andere so brutal wie nur möglich zu terrorisieren. Unschuldig wirkt allein die anmutige, bildungsbeflissene Nilgün, die als einzige Hauptperson keine erzählende Stimme erhält. Weil Opfer keine Sprache haben.

Orhan Pamuk geht moralisch rigide, erzählerisch kunst- und dramatisch kraftvoll mit seinen Landsleuten ins Gericht. Doch verfasst er keine Anklage-, sondern eine Klageschrift, ein glutvolles melancholisches Stimmengewebe. Am Ende erinnert sich Fatma an ihre Kindheitslektüre von "Robinson Crusoe": "Wenn die einmalige Lebensreise vorbei ist, kannst du sie nicht von neuem beginnen, aber wenn du ein Buch hast, und mag es noch so verworren und unverständlich sein, dann kannst du, um das Unverständliche und das Leben doch noch zu begreifen, das Buch noch einmal von vorne lesen, nicht wahr, Fatma?" Orhan Pamuk: "Das stille Haus." Roman. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier, C.Hanser, 368 S. 24,90 Euro