Neuerscheinung: Die Leiden des alten Werther

Martin Walser hat die letzte Liebe Goethes zu der 19-jährigen Ulrike von Levetzow verarbeitet. Ein hinreißender Roman.

<strong>Düsseldorf. Man fragt sich: Wie wäre diese beseligende Liebes-Verzückung, dies Liebes-Glück und -Unglück verlaufen, wenn es zu Goethes Zeiten schon Handys und Emails und die mit ihnen verbundene Geschwätzigkeit gegeben hätte? Der grandioseste Verzicht aller Zeiten hätte nicht stattgefunden, und die "Marienbader Elegie" wäre nie geschrieben worden. Seinerzeit aber musste Goethe die "Widrigkeit" anerkennen, dass sie, Ulrike von Levetzow, unerreichbar in Straßburg und er in Weimar weilte - und nichts brachte sie zusammen. Und überhaupt: Er ist jetzt 73, sie 19 Jahre alt, um Himmels willen. Er ist der berühmteste Geistesheros in Europa - Napoleon empfing ihn zweimal -, dass sein Diener Stadelmann kichernden Kiddies für gutes Geld Goethes Haare verkaufen kann. Martin Walser, bald 81 Jahre alt, beglückt uns auf das Höchste mit einem Roman, der diese wohl berühmteste Liebesgeschichte der Literaturgeschichte wunderbar nachfühlend, vergnüglich und, in der Walserschen Art, erfrischend ironisch imaginiert. Wie war das, wie hätte das sein können, was muss den Dichterfürsten, Minister und Fürstenfreund umgetrieben, beglückt, gequält haben? Als Goethe wieder einmal deprimiert sogar über Selbsttötung nachdenkt, dann aber weiß, so viel unwürdige Kraftlosigkeit darf er sich denn doch nie erlauben, stellt er sich den Hohn der Welt vor: "Die Leiden des alten Werther, werden sie lästern." Martin Walser kann, er darf das. Er dichtet auf Augenhöhe - kongenialer als Thomas Mann in "Lotte in Weimar". Sommer 1823. Goethe verbringt die dritte Sommerfrische in der Gesellschaft derer von Levetzow, mit Mutter Amalie und ihren drei Töchtern Ulrike, Amalie und Bertha. Vorher Karlsbad, dieses Jahr Marienbad. Vorher ein Spiel, diesmal Ernst. Er ist in sie verloren: "Ulrike oder nichts." "Ihn durchschoss eine Bewegung, eine Welle, ein Andrang von innen, im Kopf war es Hitze." Aber da ist auch begründete brennende Eifersucht: "Es gibt Gedanken, an denen man ersticken kann. Nichts macht so arm wie eine Liebe, die nicht glückt." Denn zwischendurch gibt sich ein schöner, geheimnisvoller junger Bewerber aus dem Nahen Osten die Ehre, der mit Edelsteinen und kostbarem Mokka handelt.

Übereinstimmungen innigster Zwiesprache

Doch erst einmal schleichen er und Ulrike sich immer wieder aus den Konventionen der Konversation, den Treffen des hier versammelten kurenden europäischen Adels heraus und in ihre, von Walser so unübertrefflich geschilderten, "blicklos besiegelten Übereinstimmungen" innigster Zwiesprache hinein. So können Gespräche, das ist hier auch zu lernen, geradewegs zu berauschenden Flucht-Räumen des Beieinanderseins werden, da muss man nicht gleich unter die schwüle Decke schlüpfen. Zwar ist er zur Promenadenzeit bald nur noch an Ulrikes Seite, weil er bewusst dem trotzen will, was die angeblichen Sitten verhängen: Dass sich eine solche Liebe nicht "schickt". Und genießt die strafenden Blicke: "Er sah es, dass alle sie beide sahen." Denn: "Meine Liebe weiß nicht, dass ich über 70 bin. Und ich weiß es auch nicht." Sie waren unübersehbar vor allem auf dem Kostümball, als sie unabgesprochen als Lotte und Werther auftreten. Wieder eine ihrer Übereinstimmungen, noch dazu eine öffentliche, sei’s drum.

In der Diana-Hütte Küsse und die "vier Du-Stunden"

Er lässt schließlich den Großherzog einen Hochzeitsantrag übermitteln. Worauf, wie er aus einer lavendelblauen Depesche erfährt, die Levetzows umgehend nach Karlsbad aufbrechen. Und er bereut den Antrag, diesen "Ausflug ins Nichthierhergehörige", denn: "Die Ehe ist eine Form, etwas Unmögliches möglich zu machen. Wer es ernst meint, bedarf ihrer nicht." Dann kann er nicht anders, als ihnen nachzureisen. Vergeblich. Auch diese Reise ist nicht mehr als ein Aufschub des endgültigen Abschieds. Ihr letzter gemeinsamer Spaziergang führt sie hinauf in eine Hütte, sie schenken sich "vier Du-Stunden" - sonst bleibt er standesgemäß Exzellenz - und innige Küsse. Unterwegs ins verhasste Weimar mit dem untüchtigen Sohn August und seiner ihn wie eine Natter jagenden Frau Ottilie rettet er sich in die in voller Länge abgedruckte "Marienbader Elegie" als seine "Vergegenwärtigungs-Unternehmung". Zelter nennt sie ein "Liebesgedicht aus Glut, Blut, Mut und Wut". Ach, Ulrike! Das dritte Kapitel ist dem Adieu gewidmet. Briefe wechseln, Gedichte, als "Eilpost der Seele", befördert von Stadelmann aus abseits gelegenen Poststationen, denn der Liebende lebt "in Feindesland". Er durchlebt einen langen Verzichts-, Entzugs- und Entsagungsprozess. Er lässt, wie die wahre, übrigens ledig gebliebene Ulrike 1899 vor ihrem Tod, alles verbrennen, was an diesen Sommer erinnert, es soll eben schlackenlos nur die Erinnerung bleiben. Und versenkt sich ausschließlicher denn je ins Schreiben, immer dann ist er "für heute gerettet". Bis er schließlich "prall vor Leichtigkeit" ist. Und wir voller Leseglück. Keinem anderen Autor wäre das so gelungen. Ab 7. März: Martin Walser: Ein liebender Mann. Roman. Rowohlt Verlag, 287 S., 19,90 Euro Martin Walser

Geboren 24. März 1927 in Wasserburg/Bodensee; Soldat der Wehrmacht; Abitur und Studium (Tübingen) von Literaturwissenschaft, Philosophie und Geschichte. 1950 Heirat mit Katharina, Töchter Franziska, Alissa, Johanna, Theresia, 1951 Promotion über Kafka

Bücher "Ein springender Brunnen", "Ehen in Philippsburg", "Lebenslauf der Liebe", "Der Augenblick der Liebe" u.v.a.m.