Neues Meisterwerk von Joyce Carol Oates
New York (dpa) - Gewalt ist ein häufig wiederkehrendes Thema bei Joyce Carol Oates. Auch mit der sexuellen Gewalt an Frauen hat sich die US-Schriftstellerin schon viel beschäftigt. Selten jedoch ging die Hilflosigkeit des Opfers so unter die Haut wie in Oates' jetzt übersetzter Novelle „Vergewaltigt“.
In ihr ist die Betroffene nicht nur ihren Angreifern ausgeliefert, sie wird anschließend auch das Opfer ruchloser Taktiken einer von Männern dominierten Justiz.
„Vergewaltigt“ ist die Geschichte von Teena Maguire, einer attraktiven und lebenslustigen Mittdreißigerin, die im Park von einer Horde junger Männer überfallen wird. Teenas zwölfjährige Tochter Bethie entkommt den zugedröhnten Jugendlichen, wird aber in ihrem Versteck zur Zeugin der brutalen Vergewaltigungen. Sie holt Hilfe, als die Gang ihre Mutter zum Sterben zurücklässt.
Ein Polizist namens Dromoor ist als erster zur Stelle. Er wird das Bild der brutal zugerichteten Frau nicht mehr los, obwohl er als ehemaliger Golfkrieger selbst genug Blut vergossen hat. Dromoor sorgt auf seine Weise für Recht, nachdem das Gericht „versagt“ und die Angeklagten ungeachtet der Zeugenaussage und des Nachweises ihrer Samenspuren wieder in die Freiheit entlassen hat. Sein Vorgehen ist nichts anderes als diskrete Lynchjustiz.
Oates gibt ihrer Novelle den Untertitel „Eine Liebesgeschichte“ und bezieht sich damit auf die Gefühle der jungen Erzählerin Bethie zu Dromoor, dem mehrfachen Retter ihrer Mutter. „Vergewaltigt“ spielt in einer Kleinstadt auf der US-Seite der Niagara Fälle. Es beginnt mit einem verhängnisvollen Abstecher durch den Park nach den Feiern des amerikanischen Unabhängigkeitstages (4. Juli).
Oates (73) beweist mit der in den USA schon 2003 veröffentlichten Novelle einmal mehr ihr Können als sprachgewaltige Autorin packender Geschichten. Die abscheuliche Tat ist mit den Konsequenzen kunstvoll verwoben. Oates Prosa ist glasklar. Umso subtiler vermittelt sie ihre Beobachtungen. Vieles bleibt unausgesprochen, so auch das Schicksal der Täter, wenngleich es keinen Zweifel an deren Ende gibt.
Es ist keine leichte Lektüre, die Oates hier bietet. Überraschend schließt sie mit einem Happy End, auch dies nur angedeutet im knappen Text einer Postkarte. Oates, die auch als Literaturprofessorin an der renommierten Princeton Universität arbeitet, genießt den Ruf einer der talentiertesten Vielschreiberinnen weltweit.
Sie hat schon mehr als 50 Bücher herausgegeben, außer Romanen, Novellen und Krimis mehrere Bände mit Kurzgeschichten, Essays und Gedichten, zudem Vorlagen für Theaterstücke und Filme. Für jemanden, der zugegebenermaßen nur eine Auswahl von Oates Büchern gelesen hat, gehört „Vergewaltigt“ zu ihren Meisterwerken.
Joyce Carol Oates: Vergewaltigt, Fischer Taschenbuch Verlag, 176 Seiten, 8,99 Euro, ISBN 978-3-596-16707-4