Roman über „Peter Rabbit“-Schöpferin Beatrix Potter
Berlin (dpa) - Aus originellen Mädchen werden exzentrische alte Jungfern. Davon ist Charitys Mutter fest überzeugt. Und deshalb hält sie auch fast panisch Ausschau nach einem passenden, reichen Ehemann für ihre Tochter.
Denn Charity Tiddler ist eindeutig originell.
Im dritten Stock der elterlichen Villa lebt sie in ihrem ganz eigenen Reich: Zusammen mit dem Kaninchen Peter, einem widerborstigen Raben, etlichen Mäusen und anderem Getier. Ihre Leidenschaft sind die Natur und das Zeichnen. Von Bällen und anderen gesellschaftlichen Ereignissen hält sie sich lieber fern.
Wie aus diesem „originellen“ Mädchen eine für das viktorianische England ganz außergewöhnlich selbstständige und erfolgreiche Frau wird, erzählt Marie-Aude Murails Roman „Das ganz und gar unbedeutende Leben der Charity Tiddler“ - eine sehr sensible und fesselnde Nacherzählung der Lebensgeschichte von „Peter Rabbit“-Erfinderin Beatrix Potter.
Bislang hat die französische Schriftstellerin Murail packende Alltagsgeschichten wie „Simpel“ und „Über kurz oder lang“ erzählt, die perfekt das Lebensgefühl junger Menschen heute trafen. Genauso nah ist die Autorin aber auch diesem unangepassten Mädchen namens Charity, dessen Werdegang sie fiktiv, aber entlang der biografischen Fakten aus Beatrix Potters Leben erzählt.
Charity erstickt fast an den strengen Konventionen der englischen High Society. Oberstes Gebot für ein junges Mädchen ist dort, sich so schicklich wie möglich zu verhalten und am besten nicht weiter aufzufallen. Eine eigene Meinung schickt sich auf gar keinen Fall für eine junge Dame, eigene Interessen auch nicht. Charity aber will lernen und beachtet werden.
Sie kann ganze Shakespeare-Werke auswendig rezitieren - und sie zeichnet so gut, das ein befreundeter Hauslehrer sie drängt, ihre naturgetreuen, botanischen Zeichnungen und kleinen Tierbilder zum Verkauf anzubieten. Doch eine Frau wird damals in der Geschäftswelt nicht als eigenständige Person anerkannt. Und Charitys Eltern legen ihrer Tochter auf dem Weg, ein selbstständiger Mensch zu werden, so viele Steine in den Weg, dass sich das Mädchen schließlich resigniert fragt: Was bin ich eigentlich wert?
Heute sind ihre Geschichten von Peter Rabbit (auf deutsch: Peter Hase), den frechen Mäusen, Schweinchen, Katzen und dem Eichhörnchen fester Bestandteil der klassischen Kinderbuchliteratur. Im viktorianischen England waren es am Ende auch die Kinder, die mit ihrem Entzücken über die Zeichnungen und lustigen Geschichten den Siegeszug von Tiddlers/Potters Werk anstießen. Und wenn es Charitys Mutter beruhigt: auch die Liebe findet ihre Tochter. Murail ist es mit ihrer sehr feinen Figurenzeichnung gelungen, für den Leser eine ganze Epoche wieder lebendig zu machen.
Marie-Aude Murail: Das ganz und gar unbedeutende Leben der Charity Tiddler: S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 576 Seiten, 16,95 Euro, ISBN 978-3-596-85443-1. Ab 12 Jahren