Orhan Pamuks: „Ich will vom Glück erzählen“

Am Mittwoch erscheint in der Türkei und in Deutschland Orhan Pamuks großer neuer Roman.

Düsseldorf. Hart stoßen sich die Dinge hier in den Seelen. Da ist der 32-jährige reiche Türke Kemal, der in New York studierte und nun in den Textilhandel der Familie einsteigt. Kurz vor seiner Verlobung mit der attraktiven Sibel, die an der Sorbonne war, begegnet Kemal in einer teuren Boutique der entfernt verwandten 18-jährigen Füsun, die als Verkäuferin hilft - und ist gepackt von brennender Liebe und Leidenschaft.

Mitten in den Vorbereitungen für die Verlobung trifft Kemal sich nun nachmittags mit Füsun im Merhamet Apartmani, einer Wohnung, die die Eltern als Abstellraum für Ausrangiertes und Nippes benutzen. Hier feiern sie rauschartige Liebesorgien. Mit der europäisierten Sibel hat Kemal Sex im Büro.

Allgegenwärtig ist die Heimatstadt, der Pamuk in den wunderschönen "Erinnerungen" eine Liebeserklärung erdichtet hat: Die Kluft zwischen Verwestlichung und sturem Islamismus, wenn Söhne mit den Chevrolets, Mustangs und Plymouths ihrer Väter umherkurven.

Man wandert durch das noble Nisantasi, spürt den "hüsün", die Istanbuler Melancholie, schwer und schön über den alten Holzhäusern und dem Bosporus hängen, hört das Tuten der Lastschiffe, erlebt auch hier den Brand eines auseinander gebrochenen Öltankers.

Und oft denkt man, dieser Kemal trage mit seiner ausgeprägten Glücks- und Leidensfähigkeit sowie seinem Proustschen Beharren auf der Kostbarkeit der Erinnerung zentrale Züge Pamuks, der prompt am Schluss als beauftragter Autor auftritt.

Doch zunächst bahnt sich eine Tragödie antiken Ausmaßes an: Kemal liebt zwei Frauen. Einerseits weiß er genau, dass er sich von Füsun niemals wird trennen können, andererseits darf er sich von Sibel nicht mehr trennen. Ohnehin ist dieser Zug längst abgefahren, die Verlobung als rauschendes Fest mit 250 Gästen im Hilton. Und in naiver Arglosigkeit hat Kemal sogar Füsun dorthin eingeladen.

Spätestens jetzt wird dem Leser angst und bange - diese Konstellation ist die Vorbereitung einer Katastrophe. Einen Tag nach dem Fest ist Füsun wie vom Erdboden verschluckt, auch in den Wochen danach bleibt Suchen vergebens. Kemal verändert sich radikal, er ersäuft sein Unglück im Raki, verkommt, das Glück mit Sibel zerfällt zu Asche.

Ihr wird klar, dass Kemal liebeskrank ist und verlockt ihn, auf dass er vergesse, zu orgiastischen Festen in einer Villa über dem Bosporus. Es scheint zu klappen - und dann doch nicht. Kemal sucht wahnhaft nach Füsun, durchstreift stundenlang die Straßen, verlässt Sibel, löst die Verlobung.

Füsun und Kemal sind fast zu Krüppeln ihrer Liebes-Sehnsucht geworden. Er findet sie nach langen Irrwegen verrammelt zuhause. Ihre unbedarften Eltern haben sie verheiratet mit einem Schlichtgemüt an Mann, der nur vom Film träumt, mit Füsun als Darstellerin und dem Geld von Kemal.

Dennoch beginnt nun eine jahrelange tragisch schöne Abenteuerreise der Liebe: Kemal pendelt hinfort zwischen dem Büro, seiner Mutter, dem Nachmittag im Merhamat Apartmeni, wo er in Erinnerungen schwelgt, und den Abenden bei Füsun.

Vom schlichten neuen Zuhause nimmt er wie ein verschämter Dieb jedesmal Alltäglichkeiten mit, die ihn für immer an Füsun erinnern sollen, die den Duft ihrer zarten Haut oder Spuren ihres Lippenstifts tragen wie etwa Zigarettenkippen. Er wird ein gieriger Sammler und entwickelt die Idee eines Museums.

So könnte sich doch noch alles zum Guten wenden. Denn Füsun trennt sich von ihrem untreuen Mann (den sie ohnehin nie geliebt hat), und der Weg ist nun frei für ihre Hochzeit mit Kemal. Dafür soll es nach Paris gehen. Bei einem Zwischenhalt im Hotel verbringen sie erstmals wieder eine Nacht gemeinsam und lieben sich inbrünstiger denn je. Und tags darauf geschieht ein entsetzliches Unglück.

Danach zieht Kemal sich ganz in sich zurück und huldigt nur noch seiner Sammelleidenschaft; für sein Museum kauft er das Haus von Füsuns Eltern. Er besucht über 3000 Museen in aller Welt - nicht große wie den Louvre, sondern kleine, abseitige, die Alltäglichkeiten oder Kuriositäten zeigen wie Hüte, Porzellanhündchen, Salzstreuer, Zuckerdossen, Feuerzeuge, Haarspangen, Kämme, Aschenbecher, sogar Olivenkerne.

Denn Kemal/Pamuk sind überzeugt, eine assoziative Kraft binde sie an unser Inneres. Mögen auch die Menschen Schuld auf sich laden, die Dinge sind ihre stummen und unschuldigen Diener, die sich zum Museum der Unschuld zusammenschließen können. Und so werden wir als Leser vom Autor und Museumsgründer immer auch als Besucher angesprochen. Denn, so endet der Roman: "Jeder soll wissen, dass ich ein glückliches Leben geführt habe."

Dieser immens poetische Roman ist ein großes, ein ergreifendes Meisterwerk, das es mit Dostojewskij und Flaubert leicht aufnehmen kann.